
WirtschaftsWoche: Herr Kramer, wären Sie manchmal lieber Gewerkschaftschef?
Ingo Kramer: Nein, auf den Gedanken bin ich noch nie gekommen.
Wir kommen drauf, weil die große Koalition den Gewerkschaften fast alle Wünsche von den Augen abliest: gesetzlicher Mindestlohn, Rente mit 63...
Das liegt an der wirtschaftlichen Lage. In guten Zeiten wie diesen neigt die Politik dazu, viel Gutes tun zu wollen. Da haben Gewerkschafter immer Vorschläge, die auf offene Ohren stoßen. In schwierigen Zeiten neigen Politiker eher dazu, ihren Rat bei Unternehmern einzuholen.
Zur Person
Kramer, 61, ist seit November 2013 Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände. Er führt einen Betrieb mit 260 Mitarbeitern in Bremerhaven.
Interessieren Argumente der Wirtschaft in Berlin derzeit noch jemanden?
Interessieren schon, aber sie werden weniger gehört. Weil die Töpfe voll sind, folgt man eher der anderen Seite. Allerdings: Unsere gute Lage ist nicht gottgegeben, sondern hängt an der Wettbewerbsfähigkeit der Betriebe. Die müssen wir uns täglich neu erkämpfen. Das wird von Politikern gern übersehen.
Von welchen Korrekturen am Rentenpaket hoffen Sie Sozialministerin Andrea Nahles trotzdem noch zu überzeugen?
Das wird verdammt schwierig. Die Rentenreform ist für die Koalition wie ein Splint in einem Scharnier: Er hält die zwei Teile zusammen. Wenn sie den rausziehen, fällt alles auseinander. Veränderungen dürften daher nur in Details möglich sein. Von der grundsätzlichen Absicht wird sich die Regierung weder von uns noch von der Kritik der Wissenschaft abhalten lassen. Leider.
Streit gibt es vor allem um die Frage, wie viele Jahre der Arbeitslosigkeit angerechnet werden. Was sagen Sie?
Wenn schon angerechnet werden soll, dann müssen wir das beschränken – absolut! Das eigentliche Argument der Befürworter war doch: Wer 45 Jahre hart gearbeitet hat, dem wollen wir den Ausstieg gönnen. Je mehr Zeiten der Arbeitslosigkeit mitzählen, desto weniger greift dieses Argument. Mit dieser Großzügigkeit tut man sich wahrlich keinen Gefallen.
Wie lässt sich eine Frühverrentungswelle verhindern?
Es gibt Möglichkeiten. Wir fürchten, dass es in erheblichem Maße zu Frühverrentung kommen wird – die Ministerin sieht das nicht so. Das Gesetz muss eine Lösung vorsehen, falls unsere Befürchtungen eintreten. Wenn das nicht passiert, schaden Vorkehrungen ja nicht. Diesem Argument verschließt sich Frau Nahles nicht.
Was halten Sie davon, die Erstattungspflicht wieder einzuführen, bei der Arbeitgeber der Arbeitsagentur die Kosten älterer Entlassener begleichen mussten?
Das hat in der Vergangenheit zu viel Streit geführt. Davon raten wir dringend ab.
Und wie wäre es mit einer Stichtagsregelung? Zeiten der Arbeitslosigkeit würden danach nicht mehr angerechnet.
Das ist eine Option.
Auch bei einem zweiten Streitthema will die Koalition bald Vollzug melden: Noch im Frühjahr soll der Entwurf für den gesetzlichen Mindestlohn kommen. Befürchten Sie eine Hast wie bei der Rente – oder sind noch Korrekturen möglich?
Der Zeitdruck ist hier nicht so groß. Aber mir ist klar, dass wir die Regierung von der Einführung des Mindestlohnes nicht mehr abbringen können. Wir halten ihn dennoch weiterhin für falsch, weil es Aufgabe der Tarifpartner ist, Löhne zu verhandeln. Auch Gewerkschaften wissen, dass am Ende die Kunden die Löhne bezahlen, nicht die Arbeitgeber. Gemeinsam wissen wir am besten, was betrieblich machbar ist und was nicht. Politiker sind da verdammt weit weg.
"Glauben Sie an den Weihnachtsmann?"





Wie wollen Sie die Risiken des Mindestlohns begrenzen?
Auch dem Arbeitsministerium ist bewusst, dass diese Lohnbarriere nicht dazu führen darf, Langzeitarbeitslose komplett vom Arbeitsmarkt auszuschließen. Es darf auch nicht passieren, dass ungelernte Jugendliche lieber Aushilfsjobs für dann ziemlich anständige 8,50 Euro pro Stunde übernehmen, statt sich ausbilden zu lassen. Ausbildung muss Vorrang haben, auch wenn sie mühselig ist und Disziplin erfordert.
Was meinen Sie konkret?
Ich finde folgenden Vorschlag sehr interessant: Junge Leute sollten den Mindestlohn erst dann bekommen, wenn sie eine Ausbildung abgeschlossen haben. Denkbar wäre hier eine Altersgrenze von 21 Jahren.
Und was ist mit Langzeitarbeitslosen?
Ich plädiere für einen Stufenplan, um die Eingangshürde niedriger anzusetzen. Wir könnten mit einem geringeren Lohn einsteigen, der sich nach einer Einarbeitungszeit Schritt für Schritt auf 8,50 Euro erhöht. Der Mindestlohn ist ja nicht in erster Linie ein Problem der Wirtschaft – sondern eines für die, die erst noch rein wollen in den Arbeitsmarkt
Über künftige Erhöhungen des Mindestlohns soll eine paritätisch besetzte Kommission entscheiden. Was passiert, wenn sich Arbeitgeber und Gewerkschaften nicht einigen?
Es soll einen Vorsitzenden geben, der wird zum Zünglein an der Waage. Ich plädiere dafür, dass sich beide Seiten auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen, der dann für mehrere Jahre seine Position ausübt. Würden beide Lager abwechselnd den Vorsitzenden alleine bestimmen, könnte das wie im Kindergarten enden: mal hohe Lohnsteigerungen, mal Nullrunden. Das wäre für beide Seiten unwürdig.
Nach neuen Statistiken der Arbeitsverwaltung müssen weit weniger Vollzeitbeschäftigte mit Hartz IV aufstocken als bisher gedacht. Glauben Sie, dass die neuen Erkenntnisse das Gesetz beeinflussen?
Glauben Sie an den Weihnachtsmann? Würde die Regierung jetzt eine Rolle rückwärts machen, wäre dies das Eingeständnis, vorher nicht genau hingeguckt zu haben. Das Argument, in Deutschland könnten massenweise Vollzeitkräfte nicht von ihrem Stundenlohn unter 8,50 Euro leben, war immer kompletter Unfug. Die meisten Beschäftigten, die aufstocken müssen, sind Teilzeitkräfte – und davon wollen viele aus persönlichen Gründen keinen Vollzeitjob.
Eine weitere Forderung der Gewerkschaften ist die Regulierung von Werkverträgen. Die Koalition will ein Informationsrecht der Betriebsräte schaffen. Einverstanden?
Damit hätte ich kein Problem – wenn es bei dem Informationsrecht bleibt.
Mit der Forderung nach mehr Mitbestimmungsrechten beißt die IG Metall also auf Granit?
Ja. Sollen Betriebsräte bestimmen, an wen ein Unternehmen seine Aufträge vergibt? Sollen Werkvertragsunternehmen künftig zuerst mit dem Betriebsrat des Kunden telefonieren, bevor sie ihr Angebot abgeben? Eine krude Vorstellung! Diese Debatte ärgert mich ungemein. Hier wird eine marktwirtschaftliche Selbstverständlichkeit – nämlich Arbeitsteilung – zu einem angeblichen Missstand hochgejazzt. Mein Unternehmen in Bremerhaven lebt zu über 90 Prozent von Werkverträgen, die wir auf den Baustellen unserer Kunden abwickeln – und das seit mehr als 100 Jahren. Unternehmen können nicht alles selber machen.
"Es treten Einzelfälle von Missbrauch auf"

Das bestreiten die Gewerkschaften auch nicht. Sie werfen den Arbeitgebern aber vor, zunehmend Jobs in der Kernproduktion durch Werkverträgler zu ersetzen.
Das ist falsch! Sicher, es treten Einzelfälle von Missbrauch auf. Aber es gibt auch Geisterfahrer auf der Autobahn, ohne dass wir deshalb Autobahnen schließen oder an jeder Einfahrt einen Polizisten aufstellen. Werkvertrag heißt ja, ein Unternehmen verkauft nicht über den eigenen Ladentisch, sondern erbringt seine Leistungen direkt beim Kunden. Das gesamte Handwerk basiert auf Werkverträgen. Wer Werkverträge beschränkt, macht unser Wirtschaftssystem unflexibler.
Bei einer Frage sind sich Arbeitgeber und Gewerkschaften einig. Die Regierung soll das vom Bundesarbeitsgericht gekippte Prinzip wieder einführen, dass im Betrieb nur ein Tarifvertrag gelten darf. Was haben Sie gegen Konkurrenz unter Gewerkschaften?
Gewerkschaftskonkurrenz hat es unter Geltung der Tarifeinheit gegeben und wird es auch nach einer gesetzlichen Wiederherstellung der Tarifeinheit geben. Es darf aber nicht sein, dass eine kleine Spartengewerkschaft einen ganzen Betrieb lahmlegt, obwohl für den Betrieb und alle Arbeitnehmer ein Tarifvertrag mit einer repräsentativen Gewerkschaft besteht. Wenn weniger als 200 Mitarbeiter auf dem Vorfeld des Frankfurter Flughafens ein Unternehmen mit 20 000 Mitarbeitern und den ganzen Flugverkehr zum Stillstand bringen können, obwohl es auch für die Streikenden einen laufenden Tarifvertrag gibt, dann läuft etwas falsch. Wenn wir solchen Entwicklungen nicht Einhalt gebieten, drohen langfristig frühere englische Zustände und die Gefahr einer Deindustrialisierung.
Ist das nicht arg übertrieben? Bisher gibt es schlagkräftige Spartengewerkschaften nur in den Branchen Bahn, Luftfahrt und Gesundheit – nicht in der Industrie.
Das wird nicht so bleiben, wenn die Tarifeinheit nicht wiederhergestellt wird. Denken Sie an Ingenieure oder IT-Experten. Spartengewerkschaften sind ein Sprengsatz für die Sozialpartnerschaft und die Tarifautonomie, die im Ausland als zentraler Standortvorteil unseres Landes gilt. Im Übrigen trifft es auch die Industrie, wenn Spartengewerkschaften jederzeit den Bahn- oder Luftverkehr lahmlegen können.
Die betroffenen Gewerkschaften wollen gegen jede Einschränkung ihrer Arbeit nach Karlsruhe ziehen.
Deutschland
Alle Verfassungsrechtler, die sich bislang zum Vorschlag der Gewerkschaften und Arbeitgeber geäußert haben, halten das für verfassungsgemäß. Ich bin kein Jurist und schon gar kein Verfassungsrechtler. Aber die Tarifeinheit hat unter der Geltung unseres Grundgesetzes 50 Jahre lang in Deutschland rechtlich unbeanstandet existiert. Warum sollte die Wiederherstellung auf einmal verfassungsrechtlich bedenklich sein? Wenn trotzdem Klagen kommen, dann ist das halt so. Es liegen juristische Gutachten zu unserem Vorschlag vor. Die Verfassung will eine funktionierende Tarifautonomie. Und das geht auf Dauer nur mit der Wiederherstellung der Tarifeinheit.
Angela Merkel hat das Ziel ausgegeben, 2017 solle es dem Land besser gehen als heute. Ist das mit Schwarz-Rot machbar?
Sagen wir es so: Das wird verdammt schwierig.