Innovationen Zwölf Ideen, die Deutschland voranbringen

In Deutschland regiert der Kompromiss. Das sorgt für Ruhe, ist aber selten wirklich gut. Zwölf Vorschläge, die Politik und Gesellschaft weiterbringen würden.

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Von Christian Ramthun, Christian Schlesiger, Cordula Tutt, Dieter Schnaas, Hans Jakob Ginsburg, Henning Krumrey, Konrad Fischer und Max Haerder

Lohnfortzahlungen für Abgeordnete

Bundestag Quelle: dpa

Seit Jahren wird der Deutsche Bundestag von wenigen Berufsgruppen dominiert und bildet nicht den Querschnitt der Bevölkerung ab. Führend ist der öffentliche Dienst, mit 30 Prozent der Abgeordneten dreimal so stark vertreten wie in der arbeitenden Bevölkerung. Weitere 17 Prozent kommen aus Organisationen wie Parteien und Gewerkschaften. Ein Grund: Die Bezahlung (derzeit 8252 Euro monatlich) ist für diese Berufsgruppen hoch attraktiv, für Unternehmer und Manager bedeutet sie dagegen Gehaltsverzicht. Deshalb wäre es besser, jeder Abgeordnete bekäme sein bisheriges Einkommen weiterbezahlt. Wegen des Geldes müsste dann keiner mehr in die Politik gehen, und Gutverdiener müssten sich das Mandat nicht als Hobby leisten. Um die Unterschiede nicht zu groß werden zu lassen, könnte ein Mindestbetrag festgesetzt werden – auch um die Empfänglichkeit für Bestechungen zu reduzieren. Vor drei Jahrzehnten machte sich der Abgeordnete Adolf Herkenrath (CDU) mit der Idee jedoch wenig Freunde. Seitdem hat sich keiner mehr getraut.
Fazit: Richtige Anreize, unabhängige Politiker

Kinderwahlrecht

Wählen für jene, die die Folgen der Politik zu spüren kriegen. Eltern sollen für ihre Kinder entscheiden, bis sie selbst wählen wollen Quelle: dpa

Die große Koalition hat gleich zum Start gezeigt, wie wichtig mehr Rechte für Kinder und Jugendliche wären. Union und SPD brachten erst einmal Wohltaten für Rentner auf den Weg. Die Gerontokratie, also die Herrschaft der Betagten, nimmt Gestalt an. Umso wichtiger wäre ein Wahlrecht für Minderjährige. Ein Sechstel des Staatsvolks ist bisher ausgeschlossen. Vor zehn Jahren wurde das schon im Bundestag diskutiert. Das Wahlrecht könnte von Eltern treuhänderisch ausgeübt werden, bis der Nachwuchs es für sich beansprucht. Das wäre fair: Bisher bekommt etwa ein kinderloses Paar doppelt so viel Gewicht an der Wahlurne wie eine allein Erziehende mit drei Kindern. Umgekehrt fragt niemand, ob alle über 18 ihr Wahlrecht ernst nehmen, ob sie geschäftsfähig, politisch interessiert oder eines Verbrechens schuldig sind. Und wer weiß bei der Briefwahl auch heute immer so genau, wer das Kreuz gemacht hat? Sogar für den Fall zerstrittener Eltern fand der ehemalige Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof eine Lösung: Vater und Mutter bekommen je eine halbe Kinder-Stimme.
Fazit: eine Stimme für die, die Politik langfristig trifft

E-Government

Wahlen, Steuererklärung, Ummelden. All das könnte online gehen. Nur scheinbar nicht in Deutschland Quelle: AP

Es gibt alte Hüte, die kommen nie aus der Mode. Seit Jahren preisen Experten die Vorteile des E-Governments an: Pässe beantragen, Urkunden beglaubigen, wählen gehen – alles ginge per Mausklick. Doch in Deutschland findet das nicht statt. Stattdessen bekämpfen sich Unternehmen mit elektronischen Standards wie dem E-Postbrief der Deutschen Post und der De-Mail, die Deutsche Telekom und 1&1 anbieten. Dabei zeigen Länder wie Singapur, Südkorea und Estland, wie es richtig geht: die Steuererklärung in zwei Stunden? Machen in Singapur 97 Prozent der fünf Millionen Einwohner. Sämtliche Behördengänge für Unternehmen elektronisch? In Südkorea selbstverständlich. Ein kostenloses Hotspot-Netz im Land? Estland macht es vor. Die erfolgreichen Länder bekennen sich zum E-Government. Der baltische Musterknabe garantiert seinen Einwohnern den Internet-Zugang sogar per Gesetz. Die Regierung in Tallinn erledigt ihre kompletten Amtsgeschäfte papierlos. Wahlen sind seit 2007 auch über das Internet möglich – das nutzten zuletzt 15 Prozent der Wähler.
Fazit: Politik muss E-Government wollen, dann klappt es auch

Gesetze mit Verfallsdatum

Auch für Gesetze sollte mal das letzte Stündlein schlagen. So kann der Schaden schlechter Entscheidungen begrenzt werden Quelle: dapd

Ein Verfallsdatum für das Mindestlohngesetz oder für das Rente-mit-63-Gesetz könnte sie zwar nicht mehr verhindern, aber zumindest die Hoffnung auf Korrekturen erhalten. Die Politik müsste sich nach ein paar Jahren wieder mit beiden Themen auseinandersetzen und könnte in der Zwischenzeit die ökonomischen und sozialen Folgen evaluieren. Danach müsste erneut eine parlamentarische Mehrheit gefunden werden, sonst würden beide auslaufen. Ein solcher Automatismus ist in einer Demokratie besser, als wenn sich erst eine Mehrheit finden muss, um ein umstrittenes Gesetz abzuschaffen. In den USA ist die „Sunset Legislation“ durchaus gebräuchlich. In Deutschland finden sich dafür nur wenige Fälle, etwa bei Konjunkturpaketen. Auch das Finanzausgleichgesetz und der Solidarpakt enden automatisch, und zwar 2019. Ohne dieses Verfallsdatum würde die massive Förderung in Ostdeutschland unendlich weiterlaufen. So aber gibt es eine lebhafte – und vielleicht fruchtbare – Debatte um eine Reform der Bund-Länder-Finanzbeziehungen.
Fazit: Wenn schon schlecht, dann nicht für immer

Die neue Ruhestandsformel

Rente mit 63, 67, 69? Eine einfache Faustregel könnte die Diskussionen beenden Quelle: dpa

Otto von Bismarck schenkte den Deutschen 1889 die Rentenversicherung und verschloss seine Gabe gleich wieder im Tresor. In den Genuss kamen Arbeiter, die das 70. Lebensjahr erreichten, und damals bedeutete dies: fast keiner. 125 Jahre später ist Rente nicht mehr das Glück weniger Greise, sondern jahrzehntelanger Alltag der älteren Generation. 1960 betrug die Dauer des Rentenbezugs gerade einmal zehn Jahre, heute sind es bereits 19. Das ist eine grandiose Errungenschaft der Medizin; zugleich aber fordert es den Sozialstaat aufs Heftigste. Die Wonnen eines langen Lebensabends werden deshalb nur zu finanzieren sein, wenn für sie länger gearbeitet wird. Um die blutdrucklastigen Debatten über die Rente mit 63, 67 oder gar 69 der Politik zu entziehen, böte sich die kluge 2:1-Formel des Demografieforschers Axel Börsch-Supan an. Einfach gesagt: Wenn die Lebenserwartung um drei Jahre steigt (was etwa alle 25 Jahre der Fall ist), greift ein Automatismus. Zwei Jahre müsste länger gearbeitet werden, um ein Jahr zusätzlichen Ruhestand zu ermöglichen.
Fazit: Die Rente muss raus aus der politischen Arena!

Elektronische Gesundheitskarte

Die Gesundheitskarte hätte Vorteile für alle, doch trotzdem wird sie regelmäßig abgelehnt Quelle: dpa

2001 schreckte der Skandal um den Cholesterinsenker Lipobay auf, der einzelne tödliche Wechselwirkungen hervorrief. Die Bundesregierung versprach die Gesundheitskarte. Sie sollte die Krankenversicherungskarte ersetzen und Daten über Therapien und Krankheiten beim Patienten bündeln. Doch bis heute wird die Umsetzung blockiert. Die Karte hat zwar fast jeder, doch ohne ihre wichtigsten Funktionen. Die vermurkste Einführung ist ein Lehrstück, wie schlagkräftige Lobbys unbequeme Neuerungen torpedieren können. Dabei liegen die Vorteile auf der Hand: In Notfällen reagieren Mediziner kundiger, Doppelchecks werden unnötig. Auch können Patienten ihre Therapie besser überschauen. Doch regelmäßig lehnt der Ärztetag die Karte ab. Die Daten seien nicht sicher, die Finanzierung ungeklärt. Das ließe sich lösen. So können Daten dezentral gespeichert und abgestuft zugänglich gemacht werden. Hinter dem Nein steckt etwas anderes: Viele Patienten könnten mit der Karte erkennen, wenn die Methode des Arztes nicht mehr aktuellem Wissen entspricht.
Fazit: Technisch machbar, aber politisch vermurkst

Ausbildungspflicht

Nach der Schulpflicht stehen viele Jugendliche ratlos auf der Straße. Dabei wäre das einfach zu beheben Quelle: ZB

Forderungen, die mit „Pflicht“ beginnen, enden für gewöhnlich mit einem Aufschrei aller Liberalen und Wirtschaftsvertreter – meist zu Recht. Bei der Ausbildungspflicht ist das anders, denn hier geht es um den Vollzug der sogar von Liberalen anerkannten Schulpflicht. Die Idee: Jugendliche werden verpflichtet, entweder einen studienqualifizierenden Schulabschluss oder eine Ausbildung zu absolvieren. Das kann entweder an der Berufsschule oder im Betrieb geschehen. Derzeit endet die Schulpflicht mit dem Erreichen eines bestimmten Alters – inhaltlich oft im Nirgendwo. Nimmt man das Ziel dieser Pflicht ernst, nämlich Jugendliche so auszubilden, dass sie ihr Leben selbstständig meistern können, sollte die erreichte Qualifikation, nicht das Alter entscheidend sein. Besonders viel Innovation wäre dafür gar nicht nötig. In den meisten Bundesländern gibt es eine formale Berufsschulpflicht. Und in Hamburg wird die Sache mit dem Modell „Jugendberufsagentur“, die sich um alle Arbeitslosen unter 25 Jahren kümmert, schon recht konsequent zu Ende gedacht.
Fazit: Die Gesetze lassen es zu, man muss es nur wollen

Freier Eintritt in Museen

Gratis ins Museum: Was in Großbritannien üblich ist, scheint hierzulande noch Zukunftsmusik zu sein Quelle: AP

Als Premierministerin Margaret Thatcher in den Achtzigerjahren staatliche Museen zur Eintreibung von Eintrittsgeldern zwang, regte sich das liberale Herz der Briten: Was für eine Unverschämtheit vom Staat, seinen Bürgern Geld für die Besichtigung von Werken abzuverlangen, die ihnen selbst gehören! Deswegen ist der Eintritt in die meisten Museen Großbritanniens heute wieder frei. Recht haben sie, die Briten! Ins British Museum, die Tate Modern und die National Gallery strömen jeweils fast viermal so viele Besucher wie ins Berliner Pergamonmuseum. Der nicht-statistische Erfolg der britischen Umsonst-Kultur: Briten gehen nicht nur öfter ins Museum, sondern auch gelassener, selbstverständlicher, beiläufiger – zum Beispiel in der Mittagspause, um ihrem Lieblingsbild einen Besuch abzustatten. Stell dir also vor, es gäbe nicht nur Kunst in Deutschland, sondern alle gingen auch noch hin! Dann liegt das babylonische Ischtar-Tor auf dem Weg vom Bahnhof Friedrichstraße zum Alexanderplatz – und man kann sich auf einen Nachmittagskaffee mit Nofretete verabreden.
Fazit: Das Museum - keine Burg, sondern ein offener Platz

Zuwanderung nach Punktesystem

Einreise nach Punkten. Zuwanderer sollen nun nach Qualifikation und Arbeitswilligkeit benotet werden Quelle: dpa

Studien zufolge wird Deutschland um 2050 elf Millionen weniger Einwohner haben, selbst wenn jedes Jahr 100 000 Zuwanderer einreisen. Und irgendwann ist die Krise in Südeuropa vorbei und der Zustrom junger Spanier und Griechen auch. Und dann? Ohne Zuwanderung würde sich die deutsche Erwerbsbevölkerung schon in diesem Jahrzehnt um vier Prozent verringern. Dabei suchen Millionen Menschen in aller Welt nach Arbeit und einer friedlichen Heimat. Diese beiden Probleme sollte man zusammenführen – zu einer Lösung, die allen hilft. Dafür muss man Zuwanderer klassifizieren. Wer gut qualifiziert ist und nicht zu alt, wer Sprachkenntnisse hat und vielleicht auch etwas tun will, was die Einheimischen eher verabscheuen (Altenpflege zum Beispiel), der sammelt für all diese Vorzüge Punkte. Wer genug Punkte hat, darf einreisen und sich einen Job suchen. Das funktioniert bereits wunderbar – nur leider nicht in Deutschland, sondern in Kanada. Die Übernahme dieses Systems in Deutschland hat eine Regierungskommission schon vorgeschlagen. Das war 2001.
Fazit: Holt mehr Leute ins Land - aber die richtigen!

Bundesfinanzamt

Noch ist die Steuerfahndung in dezentraler Hand. Das zu ändern könnte Steuersündern das Leben schwerer machen Quelle: dpa

Für Steuerhinterzieher ist der Föderalismus ein wahrer Segen. Denn die 16 Landessteuerverwaltungen sind miteinander kaum elektronisch vernetzt, in manchen Bundesländern sind wesentlich weniger Steuerfahnder unterwegs als in anderen. Die Idee einer Bundessteuerverwaltung war deshalb schon des Öfteren im Gespräch – doch stets wollten die laut Grundgesetz zuständigen Länder davon nichts wissen, zuletzt 2009. Dabei war die Einrichtung einer zentralen Steuerverwaltung einst im Entwurf des Grundgesetzes enthalten, sie scheiterte allerdings am Einspruch der Alliierten, die einen zu mächtigen Zentralstaat fürchteten.

65 Jahre später hat sich die Welt verändert. Die Globalisierung hat uns Hunderte Doppelbesteuerungsabkommen, Verrechnungspreisprobleme und kriminelle Umsatzsteuerkarusselle beschert. Damit sind die Landessteuerbehörden überfordert, deswegen haben sie bereits notgedrungen (internationale) Kompetenzen an das Bundeszentralamt für Steuern abgegeben. Jetzt müssten weitere Schritte für eine schlagkräftige Steuerverwaltung folgen.
Fazit: Effizienzgewinne von 15 Milliarden Euro sind möglich

City-Maut

In London funktioniert die City-Maut wunderbar. Sie spült Geld in die Kassen und hält die Straßen frei Quelle: dpa

London macht es, Stockholm und Oslo auch. Warum eigentlich nicht Berlin, München oder Hamburg? Die britische Hauptstadt kassiert seit 2003 von Autofahrern eine Gebühr von zehn Pfund (zwölf Euro) pro Tag, wenn sie in der Zeit von sieben Uhr morgens bis sechs Uhr abends in das Zentrum fahren. Eingeführt hatte die Maut der linke Bürgermeister Ken Livingstone, doch auch sein konservativer Nachfolger Boris Johnson findet Gefallen an der „Congestion Charge“ (Staugebühr). Denn sie funktioniert reibungslos. Öffentliche Überwachungskameras registrieren an Einfahrtsstraßen die Kennzeichen der Autos, abends findet ein Abgleich statt. Schwarzfahrer zahlen eine Strafe von bis zu 190 Pfund. Pendler lassen den Betrag daher automatisch vom Konto abbuchen. Die Auswirkungen der City-Maut: Die Staus wurden weniger – bei zunehmendem Verkehr. Die Luftqualität verbesserte sich jedoch kaum. Allerdings kassiert die städtische Verkehrsgesellschaft pro Jahr fast 300 Millionen Pfund. Die Einnahmen fließen zurück in den Bau von Straßen, Schienen und Radwegen.
Fazit: City-Maut reduziert Staus, verbessert die Straßen

Ausschreibung kritischer Infrastruktur

Fässer im Atomendlager Quelle: AP

Atommüll findet keiner gut, aber dass er weg muss, ist klar. Doch wohin? Die Bevölkerung steht Zwischenlagern vor der eigenen Haustüre oft skeptisch gegenüber. Eine vom Bund eingesetzte Kommission soll nun nach einem Endlager suchen. Zeitplan: ungewiss. Weitere Proteste: garantiert. Dabei ginge es viel einfacher. Als die spanische Regierung nach einem Standort für ein Zwischenlager suchte, schrieb sie das Projekt aus. Es bewarben sich rund ein Dutzend Gemeinden. 2011 erhielt das Dorf Villar de Cañas den Zuschlag. Der Jubel der 450 Einwohner war riesig, denn der Staat investiert bis 2018 knapp eine Milliarde Euro. Es entstehen Jobs und ein Forschungszentrum. Auch das finnische Eurajoki, eine Autostunde nördlich von Turku, profitiert auf diese Art. Finnland schrieb die Endlager-Suche aus. In Eurajoki war die Zustimmung am größten. Solche Modelle könnte Deutschland übernehmen und zudem auf viele Streitpunkte der Energiewende übertragen. Wo Wutbürger zu Beteiligten werden und finanziell profitieren, akzeptieren sie auch Windparks und Biogasanlagen.
Fazit: Die Aussicht auf Geld und Jobs bricht Widerstände

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