Insolvenzen Das Insolvenzrecht fördert die Zombiewirtschaft

Trotz Krise: Die Zahl der Unternehmenspleiten ist in den ersten neun Monaten gesunken. Quelle: dpa

Seit Jahren behindert das Insolvenzrecht das Ausscheiden unrentabler Unternehmen. Jetzt will die Bundesregierung den Schutz vor der Insolvenz noch verstärken – und greift dazu in die Rechte der Gläubiger ein.

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Die Anzahl der insolvenzgefährdeten Unternehmen steigt seit dem Beginn der Coronapandemie rapide. Schon im August, so die Wirtschaftsauskunftei Creditreform, waren in Deutschland mehr als eine halbe Million Unternehmen, also jeder sechste Betrieb, überschuldet. Seit mehreren Monaten steigt die Sorge, dass es zu einer heftigen Insolvenzwelle kommt. Davor warnt nun auch die Bundesbank. 

Die Geschwindigkeit, mit der sich diese Welle aufbaut, wie auch ihr zerstörerisches Potenzial, hat nur zu einem Teil mit der Coronapandemie zu tun. Schon vor dem Beginn der Pandemie litt jedes sechste Unternehmen in Deutschland an der Auszehrung seiner wirtschaftlichen Substanz und war auf dem Weg in die Überschuldung. Diese Unternehmen erzielten schon über mindestens drei Jahre keine operativen Gewinne, die ausgereicht hätten, um anfallende Kreditzinsen zu bedienen. 

Creditreform zufolge waren bereits im Jahr 2016 etwa 15,4 Prozent der Unternehmen in Deutschland derartige Zombieunternehmen. Ein Arbeitspapier der OECD kam schon vor vielen Jahren zu dem Ergebnis, dass in Deutschland bereits 2013 mehr als zwölf Prozent des Kapitalstocks in diesen Zombieunternehmen gebunden war. Das Problem negativer Profitabilität betrifft alle Unternehmensgrößen und geht quer durch alle Branchen. 

Im Zuge der Coronakrise hat sich das Zombie-Problem verschärft. Viele schon zuvor wackelige Unternehmen werden durch die Krise zusätzlich geschwächt und entwickeln sich infolge weiterer Verluste zu Insolvenzkandidaten. Zu Beginn der Pandemie nahm die Anzahl der Insolvenzen zunächst zu. Einige Betriebe waren so hinfällig, dass sie ihr Zombiedasein nicht mehr verschleiern konnten. Ihnen gelang es daher nicht, sich für die staatlichen Corona-Hilfen zu qualifizieren. 

Am 20. März musste die Restaurantkette Vapiano ihre Insolvenz erklären, nachdem sie einen „dringenden Appell an die Bundesregierung zur schnellen Umsetzung der wirtschaftlichen Hilfen in der Covid-19-Krise“ gerichtet hatte. Der großen Masse der Zombieunternehmen aber gelang es, unter den vom Staat aufgespannten Corona-Rettungsschirm zu fliehen. Sie fristen ihr Dasein nun als Untote. 

Konservierender Staat 

Die Coronakrise zeigt, dass die Ursache für die Mutation von Unternehmen zu Zombiebetrieben meist beim Staat liegt. Aus Furcht vor Arbeitsplatzverlusten durch marktwirtschaftliche Bereinigungsprozesse gestalten die Regierungen die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen so, dass sie auch den schwächsten der schwachen Unternehmen das Überleben ermöglichen. So ist die Wirtschafts- und Geldpolitik seit Jahrzehnten darauf ausgerichtet, Rezessionen, in denen typischerweise die unprofitabelsten und unproduktivsten Unternehmen unter Druck geraten, möglichst zu verhindern oder zumindest zu dämpfen. 

Das hat dazu geführt, dass viele Unternehmen selbst in Zeiten wirtschaftlicher Stabilität von staatlicher Protektion abhängig sind, um zu überleben. Kontinuierlich hohe und sogar steigende Subventionen, die in Deutschland und Frankreich zunehmend unter dem Banner moderner Industriepolitik vermarktet werden, oder etwa die Geldpolitik, die die Finanzierungskosten der Unternehmen drückt, konservieren überkommene Strukturen. Das gilt auch für das Dickicht der staatlichen Regulierungen, das die Zombieunternehmen vor dem Aus schützt. 

Ein typisches Beispiel dafür ist die Insolvenzgesetzgebung in Deutschland, die seit der Finanzkrise 2008 mehrfach geändert wurde. Sie ist in hohem Maße mitverantwortlich dafür, dass sich die Zombiewirtschaft gefestigt und sich ein Insolvenztsunami aufgebaut hat. 

Weiche Insolvenzgesetzgebung 

In größter Not wurde damals der in der Insolvenzordnung geregelte Überschuldungstatbestand durch das Finanzmarktstabilisierungsgesetz ausgesetzt. Seitdem können Unternehmen trotz Überschuldung der Insolvenzantragspflicht entgehen, sofern sie eine positive Fortführungsprognose nachweisen. Diese wird angenommen, wenn das Unternehmen die Schieflage voraussichtlich überwinden kann, also die „Fortführung überwiegend wahrscheinlich“ ist. Ein wichtiges Kriterium hierbei ist, dass das Unternehmen während des laufenden und des nächsten Geschäftsjahres voraussichtlich nicht zahlungsunfähig wird. De facto ist daher nicht die Überschuldung, sondern die Zahlungsunfähigkeit maßgeblich für eine Insolvenz. 

Durch diese Neuregelung hat sich das deutsche Recht dem britischen Recht angenähert, das die Überschuldung als Auslöser für eine Insolvenz nicht kennt. So konnte der britische Thomas-Cook-Konzern weiterarbeiten, obwohl er längst überschuldet war. Seine Liquidität konnte das Unternehmen über einen langen Zeitraum mit Reiseanzahlungen seiner Kunden erhalten. 

Die Bundesregierung hatte zunächst geplant, nach der Finanzkrise zur ursprünglichen gesetzlichen Regelung zurückzukehren, die bei Überschuldung die Pflicht vorsah, einen Insolvenzantrag zu stellen. Doch dann verlängerte sie die Übergangsbestimmung und kippte die geplante Rückkehr 2012 endgültig. Die Erfahrungen mit der Neuregelung wurden als „positiv“ bewertet. Experten zufolge hätten die volkswirtschaftlichen Vorteile die Nachteile klar überwogen. Bei einer Rückkehr zum alten Überschuldungsbegriff sei zu befürchten, dass „lebensfähige“ Unternehmen in ein Insolvenzverfahren gedrängt würden. 

Das modifizierte Insolvenzgesetz hat entscheidend dazu beigetragen, dass immer weniger Unternehmen aufgeben müssen. Im Jahr 2004 mussten noch 40.000 Unternehmen Insolvenz anmelden. Im ersten Halbjahr dieses Jahres gab es trotz des heftigsten Wirtschaftseinbruchs seit der Weltwirtschaftskrise 1929 nur noch 8.900 Unternehmensinsolvenzen. 

Noch mehr Schutz für Zombies 

Ausschlaggebend dafür sind die umfangreichen staatlichen Hilfen wie etwa das Kurzarbeitergeld. Sie kommen auch jenen Unternehmen zugute, die nicht oder nur wenig von der Coronapandemie betroffen sind. Hinzu kommt, dass die Bundesregierung die Insolvenzantragspflicht wegen der Coronapandemie zum 1. März dieses Jahres vorübergehend ausgesetzt hatte. Seit Anfang Oktober unterliegen Unternehmen, die zahlungsunfähig sind, wieder der Pflicht zum Insolvenzantrag. Für überschuldete Unternehmen greift die Verpflichtung zum Insolvenzantrag jedoch erst wieder zu Beginn des nächsten Jahres. Das schützt auch jene Unternehmen, deren Geschäftsmodelle jenseits der Coronakrise strukturelle Schwächen aufweisen. 

Im Bundesjustizministerium hat man mit Hochdruck an der Umsetzung einer EU-Richtlinie zur Insolvenzgesetzgebung gearbeitet, um die von vielen Experten befürchtete Insolvenzwelle zu Beginn des nächsten Jahres zu verhindern. Das Gesetz der Regierung zielt darauf ab, die Sanierung von Krisenunternehmen durch die Einführung eines „präventiven Restrukturierungsrahmens“ zu erleichtern. Das soll ihnen die Insolvenz ersparen. 

Schon heute sind Sanierungen zur Vermeidung einer Insolvenz möglich, sie können jedoch von einzelnen Gläubigern blockiert werden. In Zukunft sollen Sanierungen auch gegen einen Teil der Gläubiger durchsetzbar sein, also auch zu deren wirtschaftlichen Lasten. Das „eigensinnige Verhalten“ der Gläubiger, so heißt es im Referentenentwurf, soll zugunsten des sanierungswilligen Unternehmens unterbunden werden. 



Der im Oktober von der Bundesregierung verabschiedete Gesetzentwurf hat Experten alarmiert. Er stelle einen „Paradigmenwechsel im deutschen Sanierungs- und Insolvenzrecht dar – weg von einer Gläubigerbefriedigung (Gläubigerinteresse) hin zu einer Entschuldung (Schuldnerinteresse)“, kritisierte Lucas F. Flöther, Fachanwalt für Insolvenzrecht in seiner Stellungnahme zum Regierungsentwurf. Das neue Insolvenzgesetz gehe so weit, warnte Christoph Niering, Vorsitzender des Verbandes der Insolvenzverwalter (VID), dass es „das wechselseitige Vertrauen in die Vertragstreue nachträglich untergräbt“. Damit erodiere ein „wesentlicher Pfeiler des deutschen Rechts“. 

Ein wesentlicher Kritikpunkt wurde während des weiteren Gesetzgebungsverfahrens entschärft. Das Gesetz sieht nun nicht mehr vor, dass Krisenunternehmen in Zukunft außerhalb eines regulären Insolvenzverfahrens einseitig Verträge zu ihrem eigenen Vorteil und zum Schaden ihrer Gläubiger annullieren können, um ihre Restrukturierungsziele zu erreichen. Das hätte die gesamte Wirtschaft und das Verbrauchervertrauen geschädigt. Durch die Vertragsbeendigung außerhalb eines Insolvenzverfahrens wäre „das Vertrauen in die Wirksamkeit und Beständigkeit von Verträgen massiv geschwächt“ worden, kritisierte Mechthild Greve, Fachanwältin für Insolvenzrecht. 

Das geplante Gesetz ist ein weiterer Baustein im steten Bemühen der Politik, marode Unternehmen vor dem endgültigen Aus zu bewahren. Sie existieren als Halbtote denen es nicht mehr gelingt, mittels Produktivitätssteigerungen einen Beitrag zur Entwicklung des gesellschaftlichen Wohlstands zu leisten. Auf lange Sicht zahlen dafür alle Bürger einen hohen Preis: weniger Wohlstand. 


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Die Bereinigung zulassen 

Eine funktionierende Marktwirtschaft braucht profitable Unternehmen, denen es gelingt, neue Produkte und effizientere Prozesse zu entwickeln und deren meist extrem risikoreiche und kapitalintensive Einführung zu stemmen. Indem jedoch unprofitable und obendrein eine große Masse wenig profitabler Unternehmen durch staatliche Protektion über lange Zeiträume durchgeschleppt werden, finden „von Zeit zu Zeit eintretende Liquidationsprozesse, die großen Reorganisationen des Wertesystems der Volkswirtschaft“ (Joseph Schumpeter) nicht mehr statt. Dadurch wird die Entwertung unprofitablen Kapitals verhindert. Dies vermindert die Profitabilität der Gesamtwirtschaft, denn die insgesamt erzielten Gewinne stehen im Verhältnis zu einer größeren Kapitalbasis. 

Die niedrige Gesamtrentabilität, an der die Unternehmen auch in Deutschland leiden, hemmt ihre Fähigkeit, umwälzende Investitionen zu realisieren, die wiederum Basis für Produktivitätssteigerungen sind. Insolvenzen ordnen die Verfügungsrechte über die Produktionsfaktoren neu, entziehen sie jenen Unternehmen, die Verluste einfahren und übertragen sie an jene, die besser damit zu wirtschaften wissen. Gesamtwirtschaftlich betrachtet sind Insolvenzen daher keine Katastrophe. Sie legen das produktive Kapital in die Hände fähigerer Unternehmer. 

Statt den Strukturwandel rechtlich auszubremsen und dadurch die Zombifizierung der Wirtschaft zu fördern, sollte die Bundesregierung die Weichen in Richtung Wandel und Innovationen stellen. Nicht mehr überlebensfähige Unternehmen oder Unternehmensteile müssen aus dem Markt ausscheiden. Das Geld, das der Staat dann nicht mehr zu ihrem Erhalt aufwenden muss, kann er nutzen, um dem kreativen Teil der „kreativen Zerstörung“ (Schumpeter) zum Durchbruch zu verhelfen. Er könnte die Grundlagen verbessern, auf denen neues Wissen entsteht und neue technologische Entwicklungen gedeihen - auf dass findige Unternehmer auf dem so bereiteten Nährboden durch Innovationen den gesellschaftlichen Wohlstand mehren und erstklassige Arbeitsplätze schaffen.

Mehr zum Thema: Die Politik hält angeschlagene Unternehmen über Wasser. Doch lässt sich eine Pleitewelle wirklich verhindern?

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