Integration in den Arbeitsmarkt Der Fluch des Niedriglohnsektors

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„Wenn ich nichts Besseres finde, gehe ich zu Amazon“

Dass nicht mehr Geflüchtete bereits im Arbeitsmarkt Fuß gefasst haben, ist aus Sicht von Integrationsforscher Luft auch der Überforderung der Behörden geschuldet ­ in Anbetracht der Hunderttausende, die 2015 nach Deutschland kamen. Die Folgen dieser Überforderung sind immer noch zu spüren. „Es gibt weiter zu wenig Integrationskurse für alle Flüchtlinge, die einen Anspruch darauf hätten“, sagt Luft. „Das erschwert die Eingliederung in den Arbeitsmarkt zusätzlich.“

Daneben sieht Luft die Unternehmen, insbesondere die großen Daxkonzerne, in der Verantwortung. „Die Ankündigungen der Konzernlenker 2015 waren enorm“, sagt Luft. Allein: Der große Wurf blieb aus. Gerade einmal 800 Geflüchtete waren im vergangenen Jahr bei den 30 Daxkonzernen angestellt, weitere 700 absolvierten dort eine Ausbildung, wie eine Umfrage des Deutschlandfunk ergab. Gemessen an der weltweiten Belegschaft der Daxkonzerne waren das gerade einmal 0,2 Prozent – geflüchtete Praktikanten und Auszubildende miteingerechnet. „Die Unternehmen müssten sich deutlich stärker engagieren“, fordert Luft.

Das wünscht sich auch Omar. Der studierte Chemiker wartet nun seit mehr als drei Jahren darauf, arbeiten zu dürfen, sich einzubringen in die Gesellschaft, die ihn aufgenommen hat. In der Zeit hat er hervorragend Deutsch gelernt, ein Praktikum beim Max-Planck-Institut absolviert, ehrenamtlich als Englisch-Sprachlehrer in einem Mehrgenerationenhaus gearbeitet. Allein, einen Job hat er nicht gefunden.

„Ich hatte die Hoffnung, weiter studieren zu können“, sagt Omar. Aber er verfehlte knapp den Numerus Clausus für ein Masterstudium der Chemie in seiner Heimatstadt. Deswegen absolviert er aktuell weitere Fortbildungen. Jeden Tag, von 8:30 Uhr bis 13:30 Uhr sitzt er in den Räumlichkeiten eines privaten Bildungsunternehmens vor einem Computer und folgt per Videoschalte einer Schulung. „Das ist extrem passiv und langweilig“, sagt er. Statt ernsthaft ausgebildet zu werden, hat er das Gefühl, seine Zeit zu vertrödeln – um am Ende ein Zertifikat zu erhalten, ein Stück Papier. „Jetzt will ich nur noch arbeiten“, sagt Omar. „Wenn im November meine Maßnahme endet und ich nichts Besseres finde, gehe ich ins Lager zu Amazon.“ Er lächelt und zuckt die Schultern.

Durch eine gigantische Halle laufen und Produkte aus Regalen zusammenklauben, anstatt einen Beruf zu lernen: Das steht dem 28-Jährigen womöglich bevor. „Hauptsache nicht mehr rumsitzen. Das Rumsitzen macht depressiv“, sagt Omar. „Ich kann nichts dagegen machen. Was für einen Wert habe ich? Ich habe nichts, ich kann nichts machen, was soll ich tun?“

Er versucht es mit Bewerbungen, die er zu hunderten in den Briefkasten wirft. „An manchen Tagen verschicke ich 25 Bewerbungen, jeden Tag kriege ich Ablehnungen, Ablehnungen.“ Mal heißt es, er sei überqualifiziert wegen seines Bachelorabschlusses, mal reicht ebendieser nicht aus. Und wenn doch einmal ein Arbeitgeber interessiert ist, scheitert es an etwas anderem, etwa dem fehlenden Führerschein. Das war im Juni. „Als der Rückruf von der Firma kam, war ich so glücklich“, erzählt Omar. „Sie waren sehr sympathisch und interessiert – aber ohne einen Führerschein kann ich nicht als Pharmaberater arbeiten.“

Zwei Monate vergingen, bis das Jobcenter ihm einen Fahrschulkurs bewilligte, im September oder Oktober dieses Jahres könnte er den Führerschein haben. „Ich habe keine Ahnung, ob ich die Stelle dann noch kriegen werde. Aber so weit war ich noch nie“, sagt Omar und schöpft ein wenig Hoffnung. Ansonsten wartet das Amazon-Lager. 

Dass Omar dort landen könnte, hängt weniger mit seinen Fähigkeiten zusammen. Wie viele Geflüchtete in der Großstadt, hat er kaum Kontakt zu Menschen, die schon lange in Deutschland leben. „Aus der Integrationsforschung wissen wir, dass Netzwerke, und zwar interethnische, eine ganz zentrale Rolle spielen für den Spracherwerb, die Integration in den Arbeitsmarkt und die kulturelle Integration“, sagt Integrationsforscher Stefan Luft. „In ländlichen, klein- und mittelstädtischen Regionen werden Arbeits- und Ausbildungsplätze vor allem über lokale Netzwerke vergeben.“ Wer sich in der freiwilligen Feuerwehr engagiert und so in die Gemeinschaft hineinwächst, verbessert seine Chancen.

Das hat auch Omar längst verstanden. „Uns Geflüchteten fehlt oft eine Chance, um uns beweisen zu können, jeder von uns wäre dankbar, wir würden 110 Prozent geben“, sagt er. „Wenn ich jemanden kennen würde, der in der Chemie-Industrie arbeitet und ich mich in einer Firma beweisen könnte...“ – und dann bricht er ab. „Aber so jemanden finde ich nicht.“

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