Integration in Neukölln Erst Ausländer, jetzt Deutscher

Per Gesetz will die Regierung die Integration von Ausländern fördern. Seit der Flüchtlingskrise ist das wichtiger denn je. Doch wie wird man eigentlich deutsch? Ein Besuch bei einer Einbürgerung im Berliner Viertel Neukölln.

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Mehr als ein Stück Papier? „Auf jeden Fall eine große Verantwortung“, sagt Melisa. Quelle: dpa

Berlin Es geht pünktlich los. Das hier ist Deutschland, genauer gesagt die zweite Etage im Rathaus von Berlin-Neukölln. Das „Einbürgerungsbrot“ wartet. Das extra dafür gebackene Graubrot gibt es nach dem Festakt, bei dem 48 Ausländer ganz offiziell zu Deutschen werden. Typisch deutsch? Typisch Neukölln. Schon lange vor der Flüchtlingskrise war die Integration von Ausländern dort ein Thema. Im Bezirk leben Menschen aus 150 Nationen. Das Deutsch-Werden soll mehr als ein Gang aufs Amt sein. Deswegen gibt es eine Feier.

Die Bänke im Bezirksparlament sind voll. Die Zeremonie beginnt. Zwei Musiker spielen am Klavier und Cello die Nationalhymnen der versammelten Länder an, darunter Bangladesch, Iran, Jordanien, Polen, Italien und Vietnam. Das dauert ganz schön lange, es sind 19.

Als die Türkei an der Reihe ist, singt Melisa leise mit. Das macht sie auch bei der deutschen Nationalhymne ganz am Schluss. Die Abiturientin kommt aus einer türkischen Familie und ist schon Berlinerin. Jetzt wird sie deutsch. Mit den neueren Gesetzen wäre sie das mit der Geburt automatisch. Anders als ihre jüngeren Geschwister musste die 19-Jährige aber ein paar Bürokratierunden drehen.

Ist die Urkunde mehr als ein Stück Papier? „Auf jeden Fall, es ist schon eine große Verantwortung“, sagt Melisa. Und sie wolle ja auch wählen gehen. Was ist für sie typisch deutsch? Melisa lacht. „Currywurst?“, fragt sie zurück. Den Eid, den sie gleich bei der Einbürgerung sagen wird, hat sie auswendig gelernt.

Bei der Zeremonie können nicht alle so gut still sitzen wie Melisa. Im Saal wird es zum Ende hin unruhig, Familien fangen an zu tuscheln, Babys schreien. Ein kleiner Junge heult die ganze Zeit, als er mit seiner Mutter auf der Bühne steht. Wie auf den Straßen Neuköllns tragen mehr Frauen als sonst in Berlin ein Kopftuch. Ein dicklicher Junge kommt in Jogginghose zum Festakt. Vorne staatstragende Worte über die Demokratie und das Wählen. „Lassen Sie sich bitte auf diese Gesellschaft ein“, sagt der Parlamentsvorsteher Jürgen Koglin.


108.000 Menschen haben sich 2014 einbürgern lassen

In dem ehemaligen West-Bezirk leben 328.000 Menschen, etwa 1.000 werden jedes Jahr zu Deutschen. Bundesweit haben sich 2014 rund 108.000 Menschen einbürgern lassen, die meisten kamen aus der Türkei. Zuletzt waren die Einbürgerungszahlen leicht gesunken. Die für 2015 liegen noch nicht aus allen Bundesländern vor. Eine Einbürgerung kostet laut Bundesamt für Migration 255 Euro.

Eine große Zeremonie mit Nationalhymne und feierlichem Gelübde gibt es auch in anderen Städten. Berlin-Neukölln hat seit den Schlagzeilen um die Rütli-Schule einen Ruf als Brennpunktviertel, vor zehn Jahren schien die Migranten-Jugend außer Rand und Band zu sein. So schlimm ist es heute nicht mehr.

Früher war Heinz Buschkowsky der Bezirksbürgermeister und ein Talkshow-Dauergast. Seine Botschaft: Der Multikulti-Traum ist vorbei, Integration ist harte Arbeit, Hartz IV kein Berufsziel. Heute ist der Norden Neuköllns ein teures In-Viertel und Buschkowsky in Rente.

Nachfolgerin ist seine junge SPD-Kollegin Franziska Giffey. Zur Einbürgerung trägt die 38-Jährige ihre Amtskette über dem roten Jackett. „Es ist ein besonderer Tag für Sie“, sagt sie in ihrer Rede. Dann erzählt sie, dass sie gerade Europaparlamentarier zu Gast hatte, die den Neuköllner Alltag kennenlernten wollten. Giffey wird grundsätzlich: „Es ist nicht wichtig, woher du kommst, sondern wer du sein willst. Und darauf haben wir alle einen Einfluss.“

Dann klingt sie ein bisschen wie der Haudegen Buschkowsky, als sie die Neubürger mahnt, nicht einfach den Müll irgendwo fallen zu lassen. „Wenn sich daran alle halten würden in Neukölln, würden wir viele Millionen sparen.“

Zur Leitkultur sagt sie, alles Wichtige stehe im Grundgesetz und liest die ersten Artikel vor, darunter den zur Gleichberechtigung von Mann und Frau. Was sie nicht sagt, aber bekannt ist: Giffey ärgert es, wenn ihr Muslime nicht die Hand geben, weil sie eine Frau ist. Das hat sie schon erlebt. Das Gesetz bekommen die neuen Deutschen bei der Zeremonie in die Hand gedrückt. Dann gibt es Kaffee, Tee aus türkischen Gläsern und Graubrot aus Neukölln.

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