Integration Talente fördern

Während die deutsche Politik die Integration lange vernachlässigt hat, schafft die Wirtschaft erfreuliche Fakten: Millionen von Migranten finden in Unternehmen Arbeit, Anerkennung – und den Zugang zu Deutschland.

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Der Integrationsgipfel kommt viel zu spät, dpa

Nein, „Brand of Choice“ ist weder Türkisch noch Deutsch. Und trotzdem fallen die drei Worte häufiger als jeder deutsche oder gar türkische Ausdruck, wenn aus der Türkei stammende Mitarbeiter der Kölner Ford-Werke über ihre Arbeit berichten. Dass Ford zur „Marke der Wahl“ werden soll, war anfangs ein Werbespruch, der sich an potenzielle Kunden in der Englisch sprechenden Welt richtete. Inzwischen drückt „Brand of Choice“ die Identifikation der Türken mit Ford aus. Die Türken in Deutschland wie in der Türkei sollen Ford-Autos gleichsam aus Patriotismus schätzen und kaufen. Rund 4000 der knapp 18.000 Ford-Beschäftigten im Kölner Norden sind Türken oder Kinder türkischer Zuwanderer mit deutschem Pass. Ford in Köln war das erste deutsche Unternehmen, das mit der Anwerbung von Mitarbeitern in der Türkei begann, als das 1961 rechtlich möglich geworden war. Diese Anfangszeit, als die Werksleitung ihre Kantinenköche noch davon überzeugen musste, jeden Mittag mindestens ein Essen garantiert ohne Schweinefleisch auszugeben, ist lange vorbei. Das ist heute ebenso selbstverständlich wie Deutschkurse des Konzerns für türkische Mitarbeiter und Gebetsräume für Muslime auf dem Firmengelände. Eine „Turkish Resource Group“ (TRG), in der vor allem qualifizierte Mitarbeiter mit türkischem Background mitmachen, aber auch Arbeiter aus der Produktion und deutsche Kollegen, kämpft jetzt dafür, „türkische und deutsche Kollegen, die in Rekrutierung und Personalentwicklung bei Ford involviert sind, für Diversity zu sensibilisieren“, so Entwicklungsingenieur Ali Gögercin. „Diversity“, das heißt in der Konzernsprache von Ford die Förderung von Minderheiten in der Belegschaft – im Interesse aller Beteiligten. Und die Ziele werden immer ehrgeiziger: Es geht nicht nur darum, junge Türken in gute Ausbildungswege zu bringen, auch nicht nur darum, die anspruchsvollsten technischen Karrierewege für möglichst viele Kinder wenig qualifizierter Eltern zu öffnen. Die Diversity-Leute von Ford haben sich inzwischen das Ziel gesetzt, vor allem türkische Mädchen in technische Ausbildungswege zu bringen. So viel gelebte Integration wagen sich die meisten Politiker hier zu Lande nicht einmal in ihren kühnsten Träumen vorzustellen. Bis vor wenigen Jahren stand das Wort „Einwanderung“ auf dem politischen Index, wurden Integrationsdefizite ignoriert oder als multikulturelles Anderssein verklärt. Doch nun, angesichts massiver Integrationsprobleme vieler der rund 15 Millionen Bürger mit Migrationshintergrund, luden Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihre Ausländerbeauftragte Maria Böhmer zum Gipfel ins Kanzleramt ein und erklärten Integration zur nationalen Herausforderung. „Leider 25 Jahre zu spät“, bedauert Helmut Hochschild, kommissarischer Leiter der Rütli-Schule in Berlin, die mit dem Hilferuf des Lehrerkollegiums erst den Anstoß für den Integrationsgipfel lieferte. Auch der Osnabrücker Migrationsforscher Klaus Bade kritisiert: „Hätte sich Deutschland früher dazu bekannt, ein Einwanderungsland zu sein, und durch eine gezielte Politik des Förderns und Forderns den Migranten eine Perspektive geboten, hätten wir heute weniger Probleme“.

Im Gegensatz dazu hat sich die Wirtschaft schon frühzeitig diesen Aufgaben gestellt, schon aus rationalem Kalkül und Eigeninteresse. In Deutschlands Unternehmen sind rund drei Millionen Arbeitnehmer beschäftigt, die einen ausländischen Pass haben. Jeder zwölfte Arbeiter oder Angestellte zwischen Flensburg und Füssen ist kein Deutscher. „Ohne ausländische Fachkräfte, Unternehmer und Auszubildende ist das deutsche Handwerk nicht denkbar“, sagt der Präsident des Zentralverbandes des Deutschen Handwerks (ZDH), Otto Kentzler. „Ich unterschreibe“, konstatiert Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, „dass die Wirtschaft einer der wichtigsten Integrationsmotoren ist.“ Wenn nicht gar der wichtigste, denn, so Schäuble: „Ohne Arbeit gibt es keine Integration.“ Wie erfolgreich Integration am Arbeitsmarkt funktioniert, weiß Kentzler aus eigener Erfahrung. Der Dortmunder beschäftigt in seinem 40 Mann starken Dachdeckerbetrieb auch Ausländer. „Allerdings nur zwei“, meint Kentzler, muss die Zahl aber nach Rücksprache mit seiner Buchhaltung auf acht nach oben korrigieren: drei Russen, zwei Kasachen und je einen Österreicher, Polen und Portugiesen. „Sehen Sie“, sagt Kentzler „so integriert sind die bei uns, dass wir sie gar nicht mehr als Ausländer wahrnehmen.“ Arbeit verbindet, und Leistung schafft Wertschätzung. „Der Betrieb schafft eine Art überwölbende Identität, ein gemeinsames Dach“, sagt Migrationsexperte Bade. „Kulturelle Unterschiede treten dabei in den Hintergrund.“ Den höchsten Ausländeranteil weist die Statistik bei den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Gaststättengewerbe mit 21 Prozent auf. Überdurchschnittlich viele Zuwanderer sind auch in der Metall- und Elektrobranche tätig, in Gießereien oder im Automobilsektor (siehe Grafik Seite 26). Auf vielen Baustellen spricht nur noch der Polier Deutsch, während Subunternehmer tagtäglich kolonnenweise Osteuropäer anheuern. Auch in der Schattenwirtschaft, wo ohne Lohnsteuerkarte und Arbeitsgenehmigung gearbeitet wird, sind die Ausländer vielfach in der Überzahl. In Berlin zum Beispiel sind die meisten Putzfrauen in Privathaushalten polnischer Herkunft. Und im Gaststättengewerbe ist es ein offenes Geheimnis, dass viele Restaurants nur dank ihrer afrikanischen und asiatischen Küchenhilfen ohne Arbeitspapiere überleben können, die neben regulären ausländischen Arbeitskräften tätig sind. Zugleich wächst im High-Tech-Standort Deutschland angesichts des absehbaren demografischen Schwunds auch der Bedarf an höher qualifizierten Arbeitskräften aus dem Ausland. Zum Beispiel beim Automobilhersteller BMW. Von den rund 80.000 Beschäftigten in Deutschland sind 9,7 Prozent Ausländer. Bei den Führungskräften liegt der Ausländeranteil bei 6,4 Prozent. „Tendenz steigend“, sagt Richard Gaul, Leiter Kommunikation und Politik bei BMW, da das Angebot an deutschen Bewerbern mit Abitur und Studium längst nicht mehr ausreiche. Gaul: „Wir fahren bei BMW Programme, um ausländische Führungskräfte anzuwerben.“ Anwerben ist nur der erste Schritt, integrieren dann der zweite. Die bayrische Autoschmiede bietet eine Fülle von Integrationsmaßnahmen an. Niedergeschlagen hat sich das in den Leitsätzen der Personal- und Sozialpolitik des Konzerns, die beiden wichtigsten lauten: „Gegenseitige Wertschätzung“ und „Denken über nationale und kulturelle Grenzen hinaus“. Führungskräfte leiten interkulturell besetzte Teams, Beschäftigte unterschiedlicher Nationalitäten gestalten gemeinsame Freizeitaktivitäten, für Mitarbeiterkinder gibt es ein internationales Schüleraustauschprogramm. Integrationsprobleme, gar Ausländerfeindlichkeiten bei BMW? „Null“, sagt Gaul.

Ähnlich ist die Situation beim Autobauer Ford. Man sei stolz auf seine Türken, betont Bernhard Mattes, der Vorsitzende der Geschäftsführung, nicht nur bei Besuchen an den Standorten des Konzerns in der Türkei. Und die Türken bei Ford Köln, versichert der Entwicklungsingenieur Ali Gögercin, sind stolz auf ihr Unternehmen. Viele arbeiten neben ihrem normalen Job am „Brand-of-Choice“-Konzept und haben Vorschläge entwickelt, wie Ford-Autos gerade auch für Türken noch attraktiver werden können. Beim geräumigen Ford Transit haben die TRG-Leute eine Reihe von Einzelvorschlägen gemacht, die türkischen Vorlieben entgegenkommen sollen. „Das ist das türkischste unserer Automobile“, sagt Astrid Wagner, „Diversity“-Expertin in der Kommunikationsabteilung ihres Unternehmens. Doch während innerhalb der Wirtschaft die Integration gelingt, nehmen außerhalb der Werkstore die Probleme zu. Die Unternehmen könnten mehr Ausländer einstellen, wäre deren Bildungsniveau besser. Von den Jugendlichen aus Zuwanderungsfamilien schaffen immer weniger einen Schulabschluss. Die Abbrecherquote liegt inzwischen bei 40 Prozent, bei den Deutschen sind es – schlimm genug – 15 Prozent. Wegen der mangelnden Ausbildungsreife verzeichnet das Handwerk, das traditionell überdurchschnittlich viele Migranten aufnimmt, einen starken Rückgang bei den ausländischen Lehrlingen. Waren Mitte der Neunzigerjahre noch neun Prozent aller Azubis ohne deutschen Pass, so sind es heute nur knapp fünf Prozent. Eine gefährliche Entwicklung. Die Arbeitslosenrate ist bei Migranten bereits heute mit rund 23 Prozent (600.000) mehr als doppelt so hoch wie bei Deutschen, auch die Zahl der Transferempfänger liegt mit 13 Prozent (950.000) deutlich über dem Wert der einheimischen Bevölkerung. Während zum Beispiel Griechen und Spanier vergleichsweise gut integriert sind und häufig gute Abschlüsse erreichen, ist die Lage bei Spätaussiedlern aus Russland und muslimischen Zuwanderern schwierig. Bei türkischen Migranten liegt die Arbeitslosenquote bei fast einem Drittel. Hin- und hergerissen zwischen den Kulturen wachsen die türkischen Kinder „in doppelter Halbsprachlichkeit“ auf, beobachtet der im Berliner Problembezirk Kreuzberg lebende deutsch-türkische Unternehmer Nihat Sorgec. Der 48-Jährige kam 1972 als Gastarbeiterkind nach Deutschland, studierte Maschinenbau, arbeitete bei Siemens und besitzt heute eine Metallbaufirma und ein Weiterbildungsinstitut. Sorgec steht nicht für die Masse der türkischen Migranten. Denn bei vielen Türken zählt Bildung wenig, erklärt er. Die oft aus einfachsten Verhältnissen stammenden türkischen Migranten seien mit ihrem Nachwuchs völlig überfordert, und die deutsche Gesellschaft habe sie mit ihrem „Multikulti des Nichtstuns“ allein gelassen. „Wir können uns diese Vergeudung von Ressourcen nicht leisten“, mahnt daher Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt. Dies umso weniger, als die demografische Entwicklung hier zu Lande nach einer Studie des Kölner Instituts der deutschen Wirtschaft dazu führen wird, dass bis zum Jahr 2050 die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland um zehn Millionen sinken wird. Viele Betriebe investieren daher in die Bildung von Migranten. Etwa der Berliner Unternehmer Hans Wall. In seinem auf Straßenwerbung spezialisierten Unternehmen sind von den gut 400 Mitarbeitern in Deutschland bereits rund zehn Prozent Ausländer. Die Folgen mangelnder Integration erlebt Wall an sozialen Brennpunkten in Kreuzberg, Wedding und Neukölln, wo Vandalismus auch seine Plakatflächen trifft. Wall: „Um den sozialen Sprengstoff zu entschärfen, müssen wir weg vom Reparaturstaat hin zu einer vorsorgenden Bildungs- und Sozialpolitik kommen.“

Wall unterstützt seit vorigem Jahr die Kreuzberger Jens-Nydahl-Grundschule und finanziert dort den Förderunterricht von 30 mathematisch begabten Schülern mit schwachen Deutschkenntnissen. Die Eltern der Förderkinder werden durch Abschluss eines Elternvertrages zu Beginn der Förderung mit fest umrissenen Aufgaben und Zielen eingebunden. Halbjährliche Elterngespräche informieren über die Fortschritte der Kinder. Die Wall AG zählt auch gemeinsam mit BASF, Voith, Bosch, Fischer, Follmann, KSB, ThyssenKrupp und Trumpf zu den Gründungsmitgliedern der Initiative Wissensfabrik e. V.. Inzwischen gehören 38 Unternehmen dem Netzwerk an, das in Schulen Lernkultur, Erfindergeist und unternehmerisches Denken fördert. Um Migrantenkinder mit ihren durchweg schlechteren Zeugnisnoten nicht von vornherein bei der Vergabe von Ausbildungsplätzen auszusieben, legen Unternehmen wie die Deutsche Bahn AG spezielle Förderprogramme auf, um die sich nur Ausländer bewerben können. Andere Unternehmen wie der Papiermaschinen- und Turbinenhersteller Voith bieten Förderlehrgänge an. Derzeit unterstützt Voith 44 Schulabbrecher, ein Großteil davon Ausländer, damit sie doch noch den Anschluss ins Berufsleben finden. DIHK-Präsident Ludwig Georg Braun will aber auch die ausländischen Unternehmer stärker in die Pflicht nehmen: „Unternehmerkollegen mit Migrationshintergrund sollten mehr Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen.“ Die Betriebe mit Inhabern ausländischer Herkunft sind meist immer noch vergleichsweise klein und mit dem dualen Ausbildungssystem wenig vertraut. Die Besitzer staunten oftmals nicht schlecht, merkt Braun an, „dass sie als Dank für die Ausbildung junger Leute auch noch eine Lehrlingsvergütung zahlen sollen, die sie noch nicht einmal selbst festlegen können“. Derzeit gibt es erst 6000 Ausbildungsplätze in solchen Betrieben – viel zu wenig, kommen doch allein türkischstämmige Unternehmer auf fast 30 Milliarden Euro Umsatz und 320.000 Beschäftigte. Damit die Zahl steigt, kontaktieren der DIHK und der ZDH Vertreter deutsch-ausländischer Unternehmerverbände. Erste Erfolge kann dabei die Türkisch-Deutsche Industrie- und Handelskammer melden, deren stellvertretender Präsident Sorgec ist. Nachdem das Projekt „1000 neue Ausbildungsplätze“ bei türkischstämmigen Unternehmern in den vergangenen Monaten gut ankam, habe man nun, so Sorgec, das Projekt „2000 neue Ausbildungsplätze“ aufgelegt.

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