Interpol Cyberkriminalität entwickelt sich zur Parallelpandemie

Jürgen Stock ist Generalsekretär der Organisation Interpol. Bis 2014 war der in Wetzlar geborene Volljurist Vizepräsident beim Bundeskriminalamt (BKA). Quelle: Presse

Gefälschte Impfstoffe, gefakte Testergebnisse, erpresste Krankenhäuser: Cyberkriminelle nutzen die Verwundbarkeit von Menschen und Institutionen in der Coronakrise. Wirtschaft und Sicherheitsbehörden müssen besser kooperieren. Ein Gastbeitrag.

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Jürgen Stock ist Generalsekretär der Organisation Interpol. Bis 2014 war der in Wetzlar geborene Volljurist Vizepräsident beim Bundeskriminalamt (BKA).

Die Ähnlichkeiten sind frappierend: Hier Viren, die Menschen krank machen, gar töten und sich rasant vermehren über Kontinente hinweg, dort Viren, die weltweit Rechner und ganze Netzwerke lahmlegen und Daten abziehen. Hier neue Mutationen, dort 300.000 neue Varianten schädlicher Software – und zwar täglich. Cyberkriminalität hat sich zur Parallelpandemie entwickelt. Niemals zuvor in meiner Polizeikarriere habe ich eine so dynamische Situation erlebt: Eine Welle Covid-19-spezifischer Straftaten folgt dem Virus um die Welt. Wie die Taten begangen werden, ist nicht neu – wohl aber die Dimension, wie blitzschnell sie ausgerichtet werden auf die pandemieverursachte Verwundbarkeit von Menschen und Institutionen in einer vernetzten Welt.

Bereits im März 2020 gab es eine von Interpol koordinierte Operation von 90 Staaten gegen den Vertrieb gefälschter Medikamente. Sichergestellt wurden minderwertige Gesichtsmasken, gefälschte Desinfektionsmittel und angebliche „Coronavirus-Medizin“ im Verkaufswert von 14 Millionen US-Dollar – es war nur der Beginn einer Kriminalitätsflut mit gefälschten Anti-Covid-Produkten, „gefakten“ Internetseiten für angebliche Staatshilfen bis hin zu Erpressungssoftware. Ganze Computernetze von Kliniken, Schulen, Rathäusern, Universitäten, Laboratorien und anderen Kritischen Infrastrukturen, die wegen der Pandemie unter Druck stehen, können mit sogenannter Ransomware ausgeschaltet werden.

In diesem Jahr sind das „flüssige Gold“ die Impfstoffe, die als Fälschungen bereits übers Netz angeboten werden. Gefakte Zertifikate von Coronatests komplettieren das Angebot.

Cyberkriminalität wird weiter rasant ansteigen. Die vierte industrielle Revolution und das Internet der Dinge, aber auch Millionen mobile Rechner, die aus den Homeoffices in Büros verbunden werden, schaffen nie da gewesene Tatgelegenheiten für sich weiter professionalisierende und spezialisierende Täter, die sich über Foren entsprechend ihrer Expertise lose und weitgehend anonym verbinden. Für sie ist die Welt ein grenzenloser kriminalgeografischer Raum. Ihre Ziele verlagern sich eindeutig hin zu Großunternehmen, Regierungen, Kritischen Infrastrukturen.

Trotz jüngster spektakulärer polizeilicher Erfolge ist Cyberkriminalität nach wie vor gekennzeichnet durch hohe Profite bei niedrigem Entdeckungsrisiko. Die Schwierigkeiten für die Fahnder sind vielfältig. Rein nationale Cyberkriminalität existiert so gut wie nicht, Täter sind im Regelfall im Ausland zu suchen, sie verschleiern ihre Identität mithilfe technischer Möglichkeiten.

Erforderlich sind deshalb grenzüberschreitende Ermittlungen, aber auch ein entsprechendes rechtliches Instrumentarium und speziell geschulte Ermittler. Viele der 194 Mitgliedstaaten von Interpol verfügen über beides noch nicht oder nicht ausreichend.

Beweismittel im Internet sind zudem flüchtig, klassische Spuren wie Fingerabdrücke oder Zeugenaussagen gibt es nicht. Um die Lage zu Beginn der Ermittlung zu bewerten, ist die Polizei oft auf die Zusammenarbeit mit der Wirtschaft angewiesen. Telekommunikations- und IT-Sicherheitsdienstleister verfolgen in ihren Abwehrzentren Angriffsmuster und zirkulierende Schadsoftware in Echtzeit. Werden Unternehmen attackiert, sollten sie dies bei Polizei oder Staatsanwaltschaft anzeigen. Nur so können Täter gefasst und wichtige Erkenntnisse gewonnen werden, die wiederum in Risikobewertungen und Schutzkonzepte einfließen.

Auch im Krisenfall, bei der Beweissicherung und der Entwicklung neuer Ermittlungswerkzeuge der digitalen Kriminalistik arbeiten IT-Dienstleister und Polizei zusammen.



Rein nationale oder regionale Ansätze greifen allerdings zu kurz. Da Cyberkriminalität, genau wie die Coronapandemie, eine globale Bedrohung darstellt, muss ein effektives weltweites, mit regionalen und nationalen Strukturen komplementär verbundenes Frühwarnsystem geschaffen werden, bei dem Wirtschaft und Strafverfolgungsbehörden in stärker institutionalisierter Form kooperieren. Interpol verfolgt diesen Ansatz in seinem Innovationsstandort in Singapur, wo es mit Global Playern der Industrie in einer Art von gemeinsamer Leitstelle regelmäßig die Cyberlage analysiert und Warnmeldungen an seine Mitgliedstaaten herausgibt.

Eine weitere globale Plattform zur Zusammenarbeit zwischen Polizei und Wirtschaft wird derzeit zusammen mit dem Center for Cybersecurity des Weltwirtschaftsforums (WEF) in Genf aufgebaut, an das gegenwärtig über 60 Unternehmen angeschlossen sind. Interpol verbindet diesen Zusammenschluss mit seinem globalen polizeilichen Netzwerk und trägt so zu systematischem Austausch von Lageinformationen und Warnmeldungen bei.

Experten schätzen die weltweit verursachten Schäden durch Cyberkriminalität auf bis zu eine Billion US-Dollar pro Jahr. Der negative Trend kann nur zurückgedrängt werden durch eine institutionalisierte Sicherheitsarchitektur, bei die Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Polizei eine tragende Säule bildet.

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Zur Bekämpfung der Coronapandemie braucht die Welt eine starke Weltgesundheitsorganisation WHO; zur Bekämpfung der Cybercrime-Pandemie braucht die Welt eine starke internationale Polizeiorganisation Interpol – denn globale Gefahren erfordern eine global koordinierte Antwort.

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