Marode Schulen, geschlossene Schwimmbäder, unansehnliche Sportplätze – der Renovierungsstau in manchen Kommunen etwa im Ruhrpott ist offensichtlich. Doch die Städte und Gemeinden dort leiden unter chronischem Geldmangel. Auch in manch anderen der insgesamt 401 Kreise in Deutschland weist die Infrastruktur seit Jahren wegen unterbliebener Investitionen Mängel auf. Experten beziffern den Investitionsstau auf 149 Milliarden Euro.
Das hat zuletzt sogar Organisationen wie den Internationalen Währungsfonds zu Kritik veranlasst. Deutschland investiere zu wenig, lautet der Vorwurf. Geld sei genug da. Tatsächlich hat Deutschland bis zur Corona-Pandemie jahrelang an der Schwarzen Null im Bundeshaushalt festgehalten. Oder besser gesagt festhalten können, weil die Steuerquellen sprudelten. Warum also hat Deutschland trotz günstiger finanzieller Rahmenbedingungen so wenig in die Infrastruktur investiert?
Leon Wansleben beantwortet diese Frage so: Dass es generell nicht an Geld mangele, „stimmt so nicht.“ Das belegen der Soziologe und seine Kollegen vom Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung (MPIfG) in einer Studie mit einem aufwändigen Datenset aus 13 Flächenbundesländern. Sie zeigen, dass der deutsche Steuer-Föderalismus lokale Investitionen hemmt und ärmere Kreise benachteiligt. Denn das Steuersystem sei asymmetrisch, sagt Wansleben. „Kommunen haben – abgesehen vom Hebesatz – nicht die Berechtigung, Steuergesetze zu ändern.“ Ihre Einnahmen hängen von Verteilungsentscheidungen auf Länder- oder Bundesebene und der Gewerbesteuer ab. Dadurch ist der Spielraum von Städten, Gemeinden und Landkreisen für Ausgaben wie Infrastrukturprojekte begrenzt.
Zugleich bestimmt der Bund mit, welche Ausgaben die Kreise zu leisten haben. Grob ein Drittel aller Kreisausgaben entfallen auf Personal und Soziales. Diesem strukturellen Problem zu entfliehen sei für die unteren Ebenen schwierig, argumentieren die Wissenschaftler. „Wenn wir in Deutschland eine massive Investitionsoffensive nutzen wollen, um die Herausforderungen von Klimawandel, Digitalisierung und demografischem Wandel zu adressieren, müssen wir die sozialen, verteilungspolitischen Dimensionen dieses Prozesses mitberücksichtigen“, fordert Wansleben.
Der viel diskutierte Investitionsstau der öffentlichen Hand ist vor allem ein kommunales Phänomen – mit großen regionalen Unterschieden. Wie die Grafiken zeigen, war das Investitionsvolumen nach der Wende zunächst vor allem in der ehemaligen DDR hoch. Mittlerweile hat sich, grob gesagt, ein Gefälle zwischen dem industriestarken Süden und dem strukturschwächeren Norden eingestellt. Einzige Ausnahme: Wolfsburg, die Autostadt, die dank der VW-Gewinne hohe Gewerbesteuereinnahmen erzielt.
Für ihre Studie erhoben die Wissenschaftler detaillierte Daten über Wahlergebnisse und Investitionssummen in den Kreisen. Bis alle 13 Landesstatistikämter das Material lieferten, vergingen Jahre. Eine derart umfangreiche Datensammlung hat nach Kenntnis der MPIfG-Forscher in Deutschland bisher niemand zusammengetragen. Die Ökonomen wollten wissen: Warum holten manche Kreise die Rückstände zumindest teilweise auf, während andere immer weiter abfielen? Und welche Rolle spielen dabei parteipolitische Faktoren?
Drei Bedingungen sind nach Ansicht der Autoren für ein solides Investitionsvolumen entscheidend: hohe Einnahmen durch lokale Steuern, ein geringer Schuldenstand sowie die personelle Ausstattung auf Kreisebene, etwa durch die technischen Fachleute, die Projekte umsetzen können.
Was passiert, wenn nach Jahren klammer Haushalte, in denen das Verwaltungspersonal stark abgebaut wurde, die Steuereinnahmen steigen und Geld für Investitionen da ist, zeigen die Wissenschaftler am Beispiel der Stadt Köln: Im Jahr 2016 bewilligte der Rat Ausgaben in Höhe von 587 Millionen Euro. Doch davon flossen nur 194 Millionen Euro ab. 2018 wurden 288 von 522 Millionen Euro ausgegeben. Der Grund: Von 1995 bis 2009 war das technische Personal in der Verwaltung fast halbiert worden. Der Personalmangel beschäftigt längst auch die private Bauwirtschaft. Zusätzliche staatliche Bauprogramme könnten daher einen ungewollten Effekt haben: steigende Preise und eine Überhitzung der Baukonjunktur.
Am meisten überraschte die Studienautoren jedoch etwas anderes: Trotz des engen fiskalischen Korsetts durch den Bund und föderal geprägter Regelungen spielt die Parteizugehörigkeit des jeweiligen Bürgermeisters oder des Stadtoberhauptes eine wichtige Rolle. Die Bereitschaft, Investitionen Priorität einzuräumen, ist unter Parteien aus dem rechten politischen Spektrum demnach deutlich größer als unter linken Kommunalpolitikern. Dies gilt vor allem dann, wenn die Haushaltslage angespannt ist. Sozialdemokratische Bürgermeister hielten in diesem Fall eher „ihre schützende Hand über andere Ausgaben und fahren Investitionen zurück“, sagt MPIfG-Ökonom Donato Di Carlo. Legen die Gewerbesteuereinnahmen jedoch zu, erhöhen linke Parteien die Investitionen schneller als rechte. Eigentlich, sagt Di Carlo, seien solche Differenzen „hilfreich in einer Demokratie, aber in diesem Fall sehen wir eher das Phänomen, dass sich lokale Entscheidungsträger bildlich gesprochen zwischen Pest oder Cholera entscheiden müssen“.
Die Coronapandemie hat den Investitionsstau weiter verschärft. In den vergangenen Jahren seien zwar viele Investitionsprogramme auf lokaler Ebene, etwa für die digitale Ausstattung von Schulen oder elektrifizierte Busflotten, aufgesetzt worden, sagt Wansleben. Die Kompensationszahlungen des Bundes für ausgebliebene Steuereinnahmen hätten dabei geholfen. 2020 hatte der Bundestag eigens das Grundgesetz ergänzt, um es Bund und Ländern zu ermöglichen, die erwarteten Mindereinnahmen der Städte und Gemeinden auszugleichen. Diese Unterstützung blieb bisher aber eine einmalige Angelegenheit, der Zusatzartikel trat Ende des vergangenen Jahres wieder außer Kraft.
Die Defizite ärmerer Kommunen sind laut Wansleben in erster Linie strukturell bedingt. Sie könnten „auch in guten Zeiten nicht die Gewerbesteuern generieren, die sie bräuchten, um ihre Infrastrukturen zu modernisieren“. Eine schlechte Infrastruktur aber verschärft den Wettbewerbsnachteil ärmerer Kommunen. Ein Teufelskreis. Die Pandemie treffe strukturschwache Gebiete besonders hart, weil die dort dominierenden Branchen wie Einzelhandel und einfache Dienstleistungen „noch länger geschwächt sein werden“, vermutet Wansleben.
Die Forscher plädieren daher dafür, dass der Bund die Investitionen der Kommunen ohne Auflagen fördert. Ein solches Fördermodell könnte auf zehn Jahre angelegt sein, möglichst „ohne zu starke Einschränkungen des Fördergegenstandes“. Dadurch könnten endlich auch Schulen digital besser ausgestattet, Schwimmbäder modernisiert und Sportplätze auf den aktuellen Stand gebracht werden.
Mehr investieren – diese Forderung gehen im Bundestagswahlkampf alle Parteien mit. Abgesehen von der FDP, die vor allem auf private Investitionen setze, seien sich die Kontrahenten einig, dass in Deutschland mehr öffentliches Geld eingesetzt werden müsse, sagt auch Björn Bremer, der dritte Autor der Studie „The Constrained Politics of Local Public Investments under Cooperative Federalism“. Doch um den Kreisen die nötige Freiheit zu geben, ihre Investitionsprobleme langfristig und eigenständig zu lösen, sei eine Reform des Fiskalföderalismus notwendig. Bremer sagt, dafür brauche es allerdings „mehr als neue Koalitionen und Sitzverteilungen im Bundestag”.
Mehr zum Thema: Deutschland bleibt ein Hochsteuerstandort. Viele versprochene Steuerentlastungen sind zu gering, und selbst deren Finanzierung ist unklar.