Islamischer Staat "Der IS will seine Gegner einschüchtern – auch im Westen"

Der Islamwissenschaftler und Verfassungsschützer Behnam T. Said kennt die Ursprünge des IS und seine Propaganda-Maschinerie. Im Interview erklärt er, warum es nicht ausreicht, die Organisation zu zerschlagen.

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IS-Miliz-Propaganda-Video zeigt verschleierte Frauen mit Gewehren Quelle: dpa Picture-Alliance

Herr Said, ist der IS gefährlicher als al-Qaida?

Sowohl der IS als auch al-Qaida sind gefährliche Organisationen. Der Blick auf die eine Organisation darf den Blick auf die andere nicht verstellen.

Behnam T. Said ist Islamwissenschaftler am Landesamt für Verfassungsschutz in Hamburg.

Aber glauben Sie, dass der IS wie al-Qaida zu Anschlägen im Westen in der Lage ist?

Das erscheint durchaus möglich. Da der IS allerdings derzeit im Irak und in Syrien in schweren Kämpfen verwickelt ist, ist das aktuell wohl nicht oberste Priorität – aber der Wille ist durchaus vorhanden, die Gefahr bleibt natürlich bestehen. Die Anschläge in Kanada und zuletzt in Sydney haben gezeigt, dass Einzeltäter vom IS oder ähnlichen Gruppen inspiriert werden können und zur Tat schreiten, ohne einen direkten Auftrag erhalten zu haben. Die genauen Umstände sind hier allerdings noch zu klären.

Zur Person

Bisher tötet der IS selbst lediglich in der arabischen Welt, die überwiegende Zahl der Opfer sind Muslime.

Nicht nur die meisten Opfer des IS – das ist auch bei anderen jihadistischen Organisationen so. Die meisten Getöteten sind Muslime und Menschen aus den betreffenden Ländern.

Der IS, aber auch andere Terror-Organisationen sind geprägt vom radikal-jihadistischen Gedankengut. Seit wann gibt es diese Ausprägung?

Theoretisch lässt sich der Jihad bis in die Zeit des Propheten Mohammed zurückverfolgen – also bis ins siebte Jahrhundert nach Christus. Die jihadistische Bewegung, die wir heute kennen – die den Jihad als Grundlage aller Glaubensvorstellungen sieht – entwickelte sich seit den Sechzigerjahren.

Behnam T. Saids aktuelles Buch: IS-Miliz, al-Qaida und die deutschen Brigaden erschien im Oktober dieses Jahres bei C.H.Beck.

Wie kam es dazu?

Die Moslembruderschaft wurde in den Fünfzigerjahren in Ägypten verboten – darauf wanderten viele Mitglieder in die Golfstaaten aus. Hier kamen die politischen Ideen der Moslembrüder, insbesondere die radikalen Ideen Sayyid Qutbs, mit den puristischen Ideen des Wahabismus zusammen. Aus diesem Amalgam entstand ab den Sechzigerjahren das, was wir heute als Jihadismus bezeichnen.  

Wann haben Sie das erste Mal von der Terrororganisation Islamischen Staat (IS) gehört?

Zum Ende meiner Studienzeit – das war im Jahr 2006. Damals war die konfessionelle Auseinandersetzung im Irak zwischen Sunniten und Schiiten auf ihrem Höhepunkt. Zu diesem Zeitpunkt hieß die Organisation noch Islamischer Staat im Irak.

Die Wurzeln des IS und seiner Vororganisationen lassen sich noch weiter zurückverfolgen.

Die Entwicklung des IS hängt eng mit dem Niedergang al-Qaidas zusammen. Nach den Anschlägen auf das World-Trade-Center 2001 begannen die USA, al-Qaida-Stellungen in Pakistan und in Afghanistan zu bombardieren. Wie viele andere Jihadisten musste auch Abu Musab az-Zarqawi fliehen...

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Der später der erste Führer des IS wurde...

Er setzte sich mit seinen Männern zuerst in Richtung Iran und dann in den Irak ab, später bereiste er Syrien und den Libanon. In dieser Zeit baute er ein Netzwerk auf. Im Nordirak nahm er 2002 Kontakt zu den Vertretern von Ansar al-Islam auf – einer kurdisch-islamistischen Organisation im Irak. Aus dieser Situation heraus gründete er anschließend das Netzwerk at-Tauhid wa-l-Dschihad, das 2004 zu al-Qaida im Irak und 2006 zu IS im Irak umbenannt wurde.

„Der IS könnte den Tod al-Baghdadis kompensieren“

Der IS begann als einer von vielen al-Qaida-Ablegern, emanzipierte sich aber. Mittlerweile scheint er weitaus mächtiger als al-Qaida. Warum?

Der Zeitpunkt des Niedergangs von al-Qaida war zugleich der Höhepunkt der Organisation – die Anschläge vom 11. September 2001. Damit wurde al-Qaida zum Ziel sämtlicher westlicher Staaten im Krieg gegen den Terrorismus. Neben Osama Bin Laden wurden viele weitere wichtige Funktionäre getötet und der finanzielle Nährboden wurde trockengelegt. Parallel dazu begann der Irak-Krieg, der Jihadisten aus aller Welt anzog. Für sie war es eine unheimliche Attraktion, die Amerikaner in einem arabischen Kernland zu bekämpfen.

Die Führer des IS

Lassen Sie uns einen Blick auf die Führungsstruktur des IS werfen. Abu Bakr al-Baghdadi ist bereits der dritte Kopf der Organisation – seine drei Vorgänger wurden allesamt getötet. Auch über seinen Tod gab es jüngst Spekulationen. Wie wichtig ist er für den IS?

Er ist eines der Aushängeschilder der Organisation. Gerade al-Baghdadi, der das Kalifat ausgerufen hat, vereint vieles auf sich: Zahlreiche Personen, die sich dem IS anschließen, tun das sicher auch wegen seines Charismas und der mit ihm zusammenhängenden „Erfolgsgeschichte“ der  Organisation.

Aber ist er unabkömmlich?

Der IS hat lange Erfahrung, was die Ausschaltung von Führungsmitgliedern betrifft und er hatte jahrelang Zeit, sich auf Fall des Todes al-Baghdadis vorzubereiten. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er diesen Rückschlag zumindest mittelfristig kompensieren könnte.

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Der IS ist nicht die einzige islamistische Organisation, die aus der von Ihnen geschilderten Gemengelage erwuchs. Allerdings ist er die mächtigste. Was hat er besser gemacht als andere Organisationen?

Der IS hat unter der Führung von al-Zarqawi und später unter der al-Baghdadis die Macht konsequent weiter ausgebaut. Das Netzwerk, auf das der IS heute zurückgreift – zwischen Syrien, dem Irak, Jordanien und Libanon – wurde seit Anfang der 2000er Jahre aufgebaut. Zudem hat er sich früh selbst finanziert – durch Banküberfälle, Erpressung, Schutzgeld und Geiselnahmen.  

Darauf ist er heute nicht mehr angewiesen. Jetzt sichern Einnahmen aus Öl, Spenden und Steuern die IS-Finanzen.

Ein weiterer Aspekt ist die erfolgreiche Medienarbeit – insbesondere in den sozialen Netzwerken sind sie sehr gut aufgestellt.

Was macht der IS hier anders als die sonstigen jihadistischen Organisationen?

Zum einen hat der IS sehr früh auf die neuen Medien gesetzt. Er war die erste Terror-Organisation, die Twitter in einem derart massiven Umfang genutzt hat. 

Der IS auf Twitter

Wie sehen die Twitter-Aktivitäten aus?

Der IS nutzt Twitter sehr vielfältig. Teilweise wird in Nahzeit von bestimmten Kampfvorgängen berichtet. Sie verbreiten die Anzahl der Opfer und zeigen eingesetzte Waffensysteme. Es werden auch kürzere Traktate aus dem IS-Gedankengut verbreitet – das geschieht meist auf Arabisch, teilweise aber auch auf Englisch, Deutsch oder Französisch. Ebenso werden religiöse Gedanken geteilt. Zudem berichten die Twitter-Aktivisten aus dem Inneren des Islamischen Staats.

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Wie kann ich mir das vorstellen?

Sie schreiben über die dort durchgeführten Strafen – genauso wie über die Neueröffnungen von quasistaatlichen Einrichtungen wie etwa Schulen oder Krankenhäusern.

Was macht Twitter zu so einem effizienten Instrument?

Twitter lässt Hierarchien verflachen. Es gibt nicht – wie etwa in klassischen jihadistischen Internetforen – einen geheimen Kreis, der ausschließlich über den Zugang zu Informationen bestimmt. Bei Twitter können Menschen in unterschiedlichen Hierarchieebenen miteinander in Kontakt treten – und dementsprechend schnell in diesem Netzwerk aufsteigen.

Wer waren die Personen, die aufgestiegen sind?

Es waren vor allem Personen aus den hinteren Reihen der jihadistischen Prediger und Ideologen wie Turki al-Bin´ali alias Abu Sufyan as-Sulami, die durch den Anschluss an IS eine Aufwertung erfuhren. Diese Personen gehörten oftmals der jüngeren Generation an, im Gegensatz zur „alten Garde“ der pro al-Qaida Denker.

Was auffällig ist: Der IS hat nicht nur seine eigenen „Medienarbeiter“, sondern auch viele freie Propagandisten.

Der IS hat seine Medienarbeit dezentralisiert. Es gibt immer noch einzelne Medieneinheiten, die man offiziell nennen könnte. Dazu gibt es eine Heerschar von Einzelpersonen, die ebenfalls wertvolle Medienarbeit für den IS leistet. Er hat also ein Stück weit die Verantwortung für die Propaganda an seine Mitglieder abgegeben. Diese veröffentlichen Informationen im Namen des IS – aber in Eigenregie.

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Gibt es hierbei bestimmte Zuständigkeiten? Veröffentlichen die offiziellen IS-Twitterer andere Informationen als die inoffiziellen?

Über die offiziellen Kanäle werden insbesondere die höherwertigen oder aufwendigeren Produktionen verbreitet – zum Beispiel lange vorbereitete Videos. Auch offizielle Erklärungen vom IS-Sprecher al-Adnani werden dort publiziert oder von al-Baghdadi, wenn er sich einmal zu Wort meldet. Über die inoffiziellen erfährt man viel über das Kampfgeschehen vor Ort.

Großes Aufsehen erregt der IS mit seinen Videos. Vor allem die Enthauptungsvideos finden immer wieder ihren Platz in der Berichterstattung. Welche Rolle spielen diese Videos in der IS-Propaganda?

Die Videos verdeutlichen die zwei Gesichter, die der IS nach außen zeigt. Da gibt es das äußerst brutale Gesicht, das er sich selbst generiert hat, indem er immer wieder Enthauptungsvideos veröffentlicht, die sich an Radikalität weiter steigern. Zum anderen produziert der IS zahlreiche Videos, die sich an das syrisch-irakische Publikum richten – also an die Menschen, die unter dem IS leben oder bald leben könnten, aber auch an Sympathisanten. Hier präsentiert der IS sich als Staat, der Dienstleistungen für seine Bürger anbietet – etwa den Ausbau von Straßen, die Errichtung von Krankenhäusern, Schulen und den Ausbau elektrischer Leitungen.

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Warum braucht der IS zwei Gesichter?

Der IS schafft es, durch die äußerst brutalen Videos seine Gegner einzuschüchtern – im Westen und im Nahen Osten. Auf der anderen Seite sammelt er mit den Videos für das syrisch-irakische Publikum und die Unterstützer Sympathien und gibt vor, ein tatsächlicher Staat zu sein, der sich um die Interessen seiner Bürger kümmert.

Dieses Bild wird immer wieder entlarvt durch Videos, die Aktivisten aus dem Inneren der IS-Städte hochladen. Sie zeigen, wie schlecht die Zustände dort sind. Sind solche Videos eine Gefahr für den IS?

Der IS versucht mit aller Macht, die Veröffentlichung solcher Videos zu verhindern. Das wird deutlich anhand der wenigen Aktivisten aus Raqqa, die unter Lebensgefahr versuchen, von dort zu berichten. Einzelne werden immer wieder gefasst und hingerichtet. Der IS will Herr über die Bilder sein, die aus seinem Herrschaftsgebiet heraus entstehen.

Das bekannteste Gesicht der IS-Medienarbeit in Deutschland ist Denis Cuspert, früher bekannt als Deso Dogg. Er hat es geschafft, in die Führungsriege des IS aufzusteigen. Wie das?

Er stand schon in Deutschland mit Mohamed Mahmoud in Kontakt – einem radikalen Prediger aus Wien. Gemeinsam bauten sie in Deutschland die jihadistische Organisation Millatu-Ibrahim (Die Gemeinschaft Abrahams) auf. Mahmoud war jemand, der gut in der militanten Szene der arabischen Welt vernetzt war – wahrscheinlich hatte er auch Kontakt zu al-Qaida im Irak – der Vororganisation des IS.

Millatu-Ibrahim

Also hat Cuspert seinem Aufstieg Mahmoud zu verdanken?

Mahmoud genießt in der internationalen jihadistischen Szene Wertschätzung. Als sein Protegé wurde Cuspert natürlich schneller aufgenommen und stieg schneller auf als ein unbekanntes Gesicht, das an der türkisch-syrischen Grenze aufkreuzt. In solchen Fällen wird erst einmal geprüft, wie stark und zuverlässig diese Person wirklich ist.

Glauben Sie, dass der IS zu schlagen ist?

Ja, aber damit wäre nur eine jihadistische Organisation besiegt. Daneben gibt es in der ganzen arabischen Welt Organisationen und Netzwerke, die aktuell an Kraft gewinnen. Die Bewegung erlebt im Moment einen enormen Vormarsch und glaubt tatsächlich, dass sie bald einen Islamischen Staat auf dem Gebiet der alten Kalifate errichten kann.

Die alten Kalifate umfassten nahezu die gesamte arabische Welt, aber auch Spanien und Sizilien. Wie wahrscheinlich ist es, dass der IS sich ernsthaft bis dorthin ausbreiten will?

Der alte Kalifats-Gedanke spielt eine große Rolle. Der IS will das Kalifat in der historisch größtmöglichen Ausdehnung wieder auferstehen lassen. Das würde auch Spanien mit einschließen. Da muss man allerdings realistisch bleiben: Im Moment ist der IS in Syrien und im Irak in großen Schwierigkeiten, weswegen er sich erst einmal damit beschäftigt, sich dort zu stabilisieren und vielleicht in andere arabische Staaten wie Libyen oder Ägypten zu expandieren.

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