Jahresbericht Deutsche Einheit Der bedrohte Frieden

Mehr als 25 Jahre nach der Deutschen Einheit zieht die Bundesregierung ein ernüchterndes Fazit: Wirtschaftlich hinkt der Osten immer noch hinterher. Und der Rechtsextremismus erlebt dort einen beängstigenden Aufschwung.

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„Gewalttätige Ausschreitungen wie in Heidenau und Freital sind zu Symbolen eines sich verfestigenden Fremdenhasses geworden“, stellt die Bundesregierung in ihrem Jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit fest. Quelle: dpa

Berlin Jährlich legt die Bundesregierung einen Bericht zum Stand der Deutschen Einheit vor. Meist sind die Erkenntnisse kein Anlass für überschwängliche Freude – so auch in diesem Jahr. Ostdeutschland wird zwar bescheinigt, bei der Wirtschaftskraft weiter zum Westen aufgeholt zu haben.

26 Jahre nach der Wiedervereinigung liegt die Wirtschaftsleistung des Ostens aber immer noch um mehr als ein Viertel unter dem Niveau der alten Länder. Das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner sei von 1991 bis 2015 von 42,8 auf 72,5 Prozent des Niveaus der westdeutschen Bundesländer gestiegen.

Ein viel größerer Wermutstropfen ist allerdings ein anderer Aspekt, auf den die Bundesregierung in dem Bericht hinweist - die zunehmende Fremdenfeindlichkeit in Ostdeutschland. Im zurückliegenden Jahr habe die Zahl der rechtsextremen und fremdenfeindlichen Übergriffe „stark“ zugenommen.

„Neben unzähligen Angriffen auf Flüchtlinge und ihre Unterkünfte sind gewalttätige Ausschreitungen wie in Heidenau und Freital zu Symbolen eines sich verfestigenden Fremdenhasses geworden“, heißt es im Jahresbericht zum Stand der deutschen Einheit 2016, der dem Handelsblatt vorab vorlag. Bei den Protesten gegen die Aufnahme von Flüchtlingen sei deutlich geworden, dass die Grenzen zwischen bürgerlichen Protesten und rechtsextremistischen Agitationsformen zunehmend verschwömmen.

Die Bundesregierung spricht in ihrem Einheitsbericht, der an diesem Mittwoch dem Kabinett vorgelegt und von der Ostbeauftragten der Bundesregierung, Iris Gleicke (SPD), veröffentlicht werden soll, von „besorgniserregenden Entwicklungen“, die das Potenzial hätten, „den gesellschaftlichen Frieden in Ostdeutschland zu gefährden“. Auch negative Konsequenzen für die ostdeutsche Wirtschaft werden nicht ausgeschlossen.

„Fremdenfeindlichkeit, Rechtsextremismus und Intoleranz stellen eine große Gefahr für die gesellschaftliche, aber auch die wirtschaftliche Entwicklung der neuen Länder dar“, heißt es in dem Bericht. „Ostdeutschland wird nur als weltoffene Region, in der sich alle dort lebenden Menschen zu Hause fühlen und am gesellschaftlichen Leben teilhaben, gute Entwicklungsperspektiven haben.“

Die Statistiken belegen jedoch seit vielen Jahren, dass in Ostdeutschland im Verhältnis zur Einwohnerzahl eine besondere Häufung von fremdenfeindlichen und rechtsextremen Übergriffen zu verzeichnen ist. So liegen die im Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2015 dokumentierten, rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten bezogen auf eine Million Einwohner in Mecklenburg-Vorpommern (58,7), Brandenburg (51,9), Sachsen (49,6), Sachsen-Anhalt (42,6), Berlin (37,9) und Thüringen (33,9) deutlich über dem Durchschnitt der westdeutschen Länder (10,5).


Innenministerium: Schwerpunkte für Rechtsextremismus im Osten

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Verbundnetz Gas AG Quelle: dpa
Rotkäppchen-MummDie Rotkäppchen-Mumm-Sektkellereien gibt es erst seit 2002 – seit Mitte des 19. Jahrhunderts wird in Freyburg in Sachsen-Anhalt aber schon Rotkäppchen-Sekt hergestellt. 2002 übernahm Rotkäppchen die Sektmarke Mumm. Im Jahr 2014 machte das ostdeutsche Traditionsunternehmen einen Umsatz von fast 900 Millionen Euro. Die Sektkellereien beschäftigten im vergangenen Jahr 571 Mitarbeiter. Quelle: AP
Jenoptik AG Quelle: dpa
FAM Magdeburger Förderanlagen und Baumaschinen Quelle: dpa/dpaweb
Deutsche Bahn Quelle: dpa
Porzellan mit Zwiebelmuster Quelle: dpa
FEP Fahrzeugelektrik Pirna Quelle: dpa


In dem Einheitsbericht wird explizit vor möglichen Gefahren gewarnt, die diese Entwicklung nach sich ziehen kann. So habe die Bildung der rechten Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU), deren Mitglieder zehn Menschen ermordeten, gezeigt, dass sich ein extremistisches Milieu herausgebildet habe, aus dem heraus eine terroristische Zelle entstanden sei.

Eine Entwarnung kann der Bericht denn auch nicht geben, zumal im zurückliegenden Jahr die Zahl der rechtsextremen und fremdenfeindlichen Übergriffe stark zugenommen habe. Die Zahl der extremistischen Straftaten hat demnach im Jahr 2015 den höchsten Stand seit Einführung des Meldedienstes für politisch motivierte Straftaten im Jahr 2001 erreicht.

Als „bemerkenswert“ stuft die Bundesregierung ein, dass gerade im Kontext der fremdenfeindlich motivierten Gewalttaten die ostdeutschen Länder mit Ausnahme von Berlin nach wie vor durch sehr niedrige Ausländeranteile im Vergleich zu Westdeutschland geprägt seien. „Dies belegt, dass fremdenfeindliche Gewalt nicht durch einen hohen Ausländeranteil bedingt ist.“

Daher seien weitere Faktoren in den Blick zu nehmen, wie etwa Schrumpfung und Abwanderung in ihren Auswirkungen auf Vereins- und Engagement-Strukturen. „Ländliche und strukturschwache Regionen sind hiervon besonders betroffen“, konstatiert die Regierung.

Diese Gebiete strahlen offenbar tatsächlich eine besondere Anziehungskraft auf Rechtsextreme aus, wie aus der Antwort des Innenministeriums auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion hervorgeht. „Schwerpunkte von Rechtsextremisten in ländlichen Regionen liegen vor allem in Ostdeutschland, aber auch in einigen wenigen Regionen der westlichen Länder“, heißt es in der Antwort, die dem Handelsblatt vorliegt.


Ost-Beauftragte plant Studie zu „völkischen Siedlern“


Teilweise kann demnach sogar das Phänomen beobachtet werden, „dass es Orte gibt, in denen ein zahlenmäßig erhöhtes rechtsextremistisches Personenpotenzial lebt“, konstatiert das Ministerium. „Lokal konzentrierte Ansiedlungen von Personen, die dem rechtsextremistischen Spektrum zugerechnet werden können, sind der Bundesregierung in der Ortschaft Jamel und dem Landkreis Güstrow in Mecklenburg-Vorpommern bekannt.“

Das Ministerium erwähnt in diesem Zusammenhang auch die sogenannten „völkischen Siedler“, nach denen die Linksfraktion explizit gefragt hat. Allerdings betont das Ministerium, dass die völkische Siedlerbewegung kein Beobachtungsobjekt des Bundesverfassungsschutzes sei und derzeit auch „keine Erkenntnisse zu einer gezielten Strategie von Rechtsextremisten zu ländlicher Siedlertätigkeit“ vorlägen.

Die Linksfraktionsabgeordnete Ulla Jelpke zieht daraus den Schluss, dass die Bundesregierung das Problem nicht ernst genug nehme. „Diese Siedlerprojekte sind mögliche Brutstätten des Naziterrors“, sagte Jelpke dem Handelsblatt. „Ich erwarte von der Bundesregierung, sich genauere Kenntnisse über diese Bewegung zu verschaffen und der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen.“

Die Ost-Beauftragte Gleicke will dem Phänomen jetzt nachgehen und eine Studie zum Thema „Völkische Siedlungen in Ostdeutschland“ in Auftrag geben. Nach Informationen des Handelsblatts wird dieses Vorhaben auf der Fachebene bereits geprüft. Handlungsbedarf besteht allemal, zumal sich das Rechtsextremismus-Problem nicht vor heute auf morgen in den Griff bekommen lässt.

Im Gegenteil: Aktuell treten laut dem Einheitsbericht fremdenfeindliche Tendenzen angesichts der großen Zahl der vor Krieg, Terror und Not nach Deutschland geflüchteten Menschen sogar stärker in Erscheinung, bis hin zu Gewalttaten. Dabei seien Radikalisierungstendenzen bis in die Mitte der Gesellschaft sichtbar.

„Bei Weitem sind diese Phänomene aber nicht ausschließlich auf aktuelle Entwicklungen zurückzuführen“, heißt es in dem Bericht. „Es handelt sich hier auch um langfristig wirkende Einstellungsmuster und daraus resultierende Herausforderungen.“ Die Bekämpfung des Extremismus stelle daher eine „ebenso drängende wie langfristige“ Aufgabe dar.


Auch Zahl linksextremistischer Gewalttaten „erheblich“ angestiegen


Das betrifft nicht nur rechte Gewalttäter. Insgesamt sei eine „besorgniserregende Zuspitzung“ der politischen Auseinandersetzung zu beobachten, heißt es in dem Einheitsbericht. „Die rechtsextremistische Anti-Asyl-Agitation wirkt auch im linksextremistischen Spektrum als Gewaltbeschleuniger. Rechtextremisten kalkulierten etwa bei Demonstrationen Auseinandersetzungen mit linksextremistischen Gegendemonstranten ein. „Andererseits“, konstatiert der Bericht, „missbrauchen Linksextremisten Gegendemonstrationen und begingen eine Vielzahl von zum Teil mit erheblicher Gewalt verbundenen Straftaten, insbesondere auch gegen die Polizei.“

So sei im Jahr 2015 die Zahl der linksextremistisch motivierten Gewalttaten ebenfalls „erheblich“ angestiegen. Auch hier lägen die im Verfassungsschutzbericht dokumentierten Taten je eine Million Einwohner im ostdeutschen Durchschnitt (31,3) deutlich über dem westdeutschen Niveau (16,9), was vor allem auf eine hohe Intensität in Sachsen (69,8), Mecklenburg-Vorpommern (39,4) und Berlin (23,8) zurückgehe.

Die Bundesregierung setzt im Kampf gegen radikale Tendenzen auch auf das Engagement aller gesellschaftlichen Akteure. Bürger, Unternehmen und Händler, Vereine und Gemeinden hätten ein gemeinsames Interesse, Fremdenfeindlichkeit, Extremismus und Gewalt „möglichst keinen Raum“ zu lassen.

„Die übergroße Mehrheit in Ostdeutschland steht für Demokratie und Toleranz ein“, betont der Einheitsbericht. Sie müsse weiter unterstützt und ermutigt werden, „sich der rechtsextremen Bedrohung offen und sichtbar entgegenzustellen, damit nicht länger eine lautstarke Minderheit das Gesamtbild dominieren und verzerren kann“.

Gleichwohl ist sich die Bundesregierung auch bewusst, dass es Zivilcourage erfordere, menschen- und demokratiefeindliche Äußerungen zurückzuweisen - egal ob in Vereinen oder Verbänden, am Arbeitsplatz oder in alltäglichen Situationen. Aber: „Zivilcourage, Mut und Entschlossenheit haben die Ostdeutschen schon in den dramatischen Tagen und Wochen des Jahres 1989 unter Beweis gestellt. Hieran gilt es anzuknüpfen.“

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