Der globale Handel erlebt einen Stresstest. Lieferketten stocken, die Energieversorgung ist gefährdet, kritische Infrastrukturen sind bedroht. Unkontrollierte Inflation, eine unkalkulierbare chinesische Coronapolitik und der verbrecherische Krieg gegen die Ukraine vergrößern die Unsicherheit. Daher verwundert es nicht, dass jüngst ausgerechnet in Davos einer Deglobalisierung das Wort geredet wurde.
Für Deutschland bedeutet dies tiefgreifende Veränderungen. Wir verkaufen Autos und Maschinen in alle Welt, beziehen günstige Energie aus Russland, und unsere amerikanischen Partner schützen uns – dieses viele Jahrzehnte erfolgreiche deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr. In zwei der drei Bereiche, Energie und Sicherheit, reagieren wir: Mit dem angestrebten Import von Flüssiggas und dem beschlossenen Sondervermögen für die Bundeswehr gehen wir erste Schritte hin zu einer putinfreien Energieversorgung und einer verbesserten Wehrhaftigkeit.
Doch das Fundament unseres Geschäftsmodells bildet der Außenhandel. Hier bleibt die Erneuerung bislang aus. Was fatale Folgen für unseren Wohlstand haben kann: Fast ein Drittel der Bruttowertschöpfung und mehr als jeder vierte Job hängen in Deutschland direkt oder indirekt vom Export ab. Eine Deglobalisierung des deutschen Handels wäre deshalb nicht zielführend. Doch ebenso ist die Grenze einer gedankenlosen Globalisierung erreicht.
Wie schaffen wir diesen Spagat? Der Leitgedanke des neuen deutschen Geschäftsmodells sollte sein: Sicherheit durch Handel. Handelspolitik ist Sicherheitspolitik. Um unsere Freiheit und Sicherheit zu wahren, brauchen wir den Freihandel. Dieser Anspruch einer strategischen Außenwirtschaftspolitik verwirklicht sich in drei Dimensionen. Freihandel reduziert Armut und verbindet uns mit Partnern, die unsere Werte und Sicherheitsinteressen teilen. Unsere Versorgungssicherheit und die Resilienz unserer Lieferketten werden durch die Diversifizierung unserer Handelspartner verbessert. Die Umsätze von Unternehmen und das Einkommen von Erwerbstätigen werden gesichert. Drei Punkte sind zentral:
Erstens: Ordnung schafft Sicherheit. Als globaler Handelspartner profitiert Deutschland von einer regelbasierten internationalen Ordnung. So wünschenswert eine Reform der Welthandelsorganisation (WTO) ist, dieser Tage ist sie kaum realistisch. Möchten wir Normen etablieren, sollte Deutschland stärker für plurilaterale Abkommen eintreten, an denen sich jedenfalls eine bestimmte Zahl von WTO-Mitgliedstaaten beteiligen.
Zum Autor
Jens Spahn ist stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, zuständig für Wirtschaft, Klima, Energie und Mittelstand, sowie ehemaliger Bundesgesundheitsminister.
Solche Handelskoalitionen der Willigen können den Ausgangspunkt für globale Rechtsentwicklungen bilden. Deutschland und Europa müssen zudem mehr Einsatz zeigen, um dem strategischen Vorgehen Chinas und anderer in internationalen Organisationen für Normung und Standardisierung entgegenzuwirken.
Zweitens: Partner schaffen Sicherheit. Wir müssen den Handel mit anderen Demokratien stärken, um unsere Abhängigkeiten in zentralen Feldern zu reduzieren. Kanada, Neuseeland, Australien ebenso wie Chile, Mexiko und Indien – die Liste potenzieller neuer Handelsabkommen der EU ist lang. Auch in der strategisch wichtigen Region des Indo-Pazifiks müssen wir zumindest offene Angebote machen.
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Aus Deutschland braucht es für diesen breiten handelspolitischen Ansatz klare Signale. Auch in der Tiefe und Art unserer Handelsbeziehungen brauchen wir ein neues Sicherheitsdenken: durch Friendshoring, also den stärkeren Austausch mit unseren engsten Partnern weltweit, Geschlossenheit und Durchsetzungskraft der westlichen Partner in einer institutionalisierten Wirtschafts-Nato.
Drittens: Klarheit schafft Sicherheit. Wird Handelspolitik mit zu vielen Anliegen überladen, droht sie ihre Kernziele zu verfehlen. Effektive Handelspolitik kann nicht alle denkbaren Ziele internationaler Kooperation erfüllen, dafür stehen andere Instrumente zur Verfügung. Wir brauchen auch Klarheit in der strategischen Kommunikation: Dazu zählt, einen neuen nationalen und europäischen – und darauf aufbauend transatlantischen – Konsens über unsere künftige Chinapolitik zu formulieren.
Schließlich braucht es Klarheit in den Regeln: Unter welchen Umständen erhalten deutsche Auslandsinvestitionen künftig noch eine staatliche Absicherung? Sind Investitionsprüfungen auch bei ausgehenden Investitionen in bestimmte Regionen und unter bestimmten Umständen sinnvoll? Welche ausländischen Investitionen in deutsche Unternehmen müssen noch stärker unter die Lupe genommen werden, gerade in kritischen Infrastrukturbereichen wie beim Ausbau der erneuerbaren Energien?
Einst wurde die Handelssäule des deutschen Geschäftsmodells getragen von dem Anspruch, Wandel durch Handel zu erreichen. Nicht überall und nicht sofort hat sich das verwirklicht. Vor manchen offensichtlichen Entwicklungen haben wir die Augen verschlossen, zum Beispiel dass China immer autoritärer wird. Und doch ist der Anspruch von Wandel durch Handel nicht ungültig. So wenig Handelspolitik reine Hoffnungspolitik sein darf, so wenig dürfen wir den Fakt ignorieren, dass die globale Arbeitsteilung viele Millionen Menschen aus der Armut befreit hat.
Das eine zu tun, bedeutet daher nicht, dass andere zu vergessen. Doch solange wir die globalen Umbrüche dieser Zeitenwende bewältigen, ist Sicherheit durch Handel die wohl wichtigste Säule eines neuen deutschen Geschäftsmodells.
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