
WirtschaftsWoche: Herr Professor Behnke, nehmen wir an, ich möchte bei der Wahl am Sonntag mit meiner Erst- und Zweitstimme am liebsten eine bestimmte Koalition herbeiwählen. Geht das überhaupt?
Joachim Behnke: Nein, das wird nicht klappen. Jeder Wähler hat nur eine entscheidende Stimme, um die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag mit zu bestimmen - und das ist die Zweitstimme. Sie können natürlich gern mit Erst- und Zweitstimme Ihre favorisierte Koalition ankreuzen, aber das ist nur ein symbolischer Akt.

Das taktische Wählen per Stimmensplitting ist also nutzlos?
Splitting ergab schon nach altem Wahlrecht nur dann Sinn, wenn die reelle Chance auf ein Überhangmandat für die Partei meiner Wahl bestand. Ein Beispiel: Sie waren CDU-Anhänger, gingen aber davon aus, dass Ihre Partei in Ihrem Bundesland auf jeden Fall Überhangmandate erringen würde. Dann wäre eine Abgabe Ihrer Zweitstimme für die CDU bedeutungslos gewesen. Diese für die CDU nutzlose Stimme konnten Sie dann etwa der FDP geben, ohne dass Ihrer bevorzugten Partei, der CDU, damit etwas verloren gegangen wäre.
Was ändert sich durch das neue Wahlrecht Grundlegendes?
Stimmensplitting ist nutzlos geworden. Denn nach dem neuen Wahlrecht wird jedes Überhangmandat, das früher die eigentliche Sitzverteilung im Bundestag anhand der Zweitstimmenergebnisse verzerren konnte, vollständig durch Zusatzmandate für die anderen Parteien ausgeglichen. Die Zweitstimme ist also noch wichtiger geworden als früher.
Der FDP-Generalsekretär Patrick Döring wirbt aber um Zweitstimmen aus dem Unionslager mit dem Satz, dies sei für beide Seiten eine „Win-Win-Situation“.
Das stimmt aber nicht mehr. Nach dem neuen Recht ist es definitiv ein Nullsummenspiel. Was die eine Partei gewinnt, muss die andere verlieren.





Warum gibt es das neue Wahlrecht überhaupt?
Auslöser war ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von 2008. Nach altem Recht konnte unter Umständen ein so genanntes "negatives Stimmgewicht" auftreten. Es bedeutet, dass eine Stimme für eine Partei ausgerechnet dieser Partei am Ende weniger Sitze im Parlament bescherte. Dieser Makel musste korrigiert werden.
Ist das neue System jetzt besser oder schlechter als das vorherige?
Es ist in jedem Fall besser. Die Idee unseres Wahlsystems basiert auf Verhältniswahl: Die Anteile der Sitze der Parteien sollen möglichst genau ihren Anteilen an den Zweitstimmen entsprechen. Die Überhangmandate sorgten aber bisher für eine ungerechtfertigte Bevorzugung. Nicht jedes Mandat musste mit der gleichen Anzahl von Zweitstimmen errungen werden.
Droht wegen der neuen Ausgleichsmandate ein aufgeblähter Bundestag mit mehr als 650 Abgeordneten?
Das hängt natürlich vom konkreten Wahlausgang ab. Wäre schon 2009 nach dem neuen recht abgestimmt worden, dann hätte der jetzige Bundestag 669 statt 620 Sitze. Wenn die gegenwärtigen Umfragen am Sonntag eintreffen, rechne ich mit 620 bis 640 Sitzen im neuen Bundestag. Er würde also wohl größer, aber aufgebläht würde ich das noch nicht nennen.
Wir lautet denn Ihr Tipp für Sonntag?
Ich werde mich hüten, Prognosen abzugeben. Aber eines ist klar: Weil wirklich nur noch die Zweitstimme über die Mehrheiten entscheidet, werden wir alle früher als sonst wissen, wer die Sieger und wer die Verlierer sind.