Jobboom oder Trickserei? Warum nicht jeder Jobsucher „arbeitslos“ ist

Nicht jeder, der einen Job sucht, ist offiziell „arbeitslos“. Wer das als „Statistik-Trickserei“ abtut, macht es sich zu einfach. Mit Politik hat es aber schon zu tun.

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Es gehört aus Laiensicht zu den großen Merkwürdigkeiten der deutschen Arbeitsmarktstatistik: Eigentlich suchen sie Arbeit wie alle anderen auch, doch als „arbeitslos“ im amtlichen Sinne gelten viele Jobsucher nicht. Das führt im politischen Berlin fast monatlich aufs Neue zu Diskussionen zwischen Regierung und der Opposition - und für Irritationen bei so manchem Außenstehenden. Waren im Dezember nun 2,568 Millionen Männer und Frauen arbeitslos, wie Bundesagentur und Regierung vermelden? Oder waren es nicht fast eine Million mehr, die auf Jobsuche waren, wie etwa die Linkspartei im Bundestag stets behauptet.

Und ist der von manchen gepriesene „Job-Boom“ an Ende gar keiner, sind die amtlichen Informationen nur die halbe Wahrheit? Zuletzt hat vor allem die Flüchtlingszuwanderung der beiden Vorjahre ein Schlaglicht auf diese Problematik geworfen. Obwohl Flüchtlinge noch 2015 zu Hunderttausenden nach Deutschland gekommen waren, tauchen bis Dezember 2016 lediglich 175.000 Asylbewerber als „arbeitslos“ in der Bundesagentur-Statistik auf. „Arbeitssuchend“ - für den Laien umgangssprachlich eigentlich kein Unterschied - aber waren zuletzt 425.000 Flüchtlinge.

Tatsächlich ist „Arbeitslosigkeit“ keine naturgesetzliche Größe, sondern ein immer wieder neu geformter politischer Begriff. Eine Welle von Gesetzesänderung machte ihn in den vergangenen 30 Jahren zu dem was er heute ist. Keineswegs immer, aber doch ziemlich oft - so sind sich auch Experten einig - haben die Änderungen dazu geführt, dass immer weniger Jobsucher im offiziellen Sinne „arbeitslos“ sind. Denn „arbeitslos“ im Sinne des Gesetzes ist nur, wer „den Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit zur Verfügung steht“, also nach Möglichkeit gleich Morgen einen ihm angebotenen Job übernehmen kann. Mehrere Hunderttausend sind bis heute durch das immer stärker geweitete Statistik-Raster gefallen - meist zum Missfallen der jeweiligen Bundestags-Opposition, die dahinter „Statistik-Tricksereien“ vermutete.

Für großes Aufsehen hatte beispielsweise der seit 2009 von der Bundesregierung beschlossene neue Umgang mit älteren Hartz-IV-Beziehern ab 58 gesorgt: Wer von ihnen zwölf Monate lang keinen sozialversicherungspflichtigen Job angeboten bekommt, taucht seitdem in der BA-Statistik nicht mehr als arbeitslos auf. Würde die Gruppe älterer Arbeitsloser mitgezählt, hätte die offizielle Arbeitslosigkeit im Dezember 2016 um 161.000 höher gelegen.

Weitaus älter, aber bis heute folgenreich ist die Entscheidung der Bundesregierung von 2002, auch Teilnehmer von ein bis zwei zweiwöchigen Trainingskursen nicht mehr als arbeitslos einzustufen. Dabei sind Teilnehmer solcher Kurse, die etwa Jobsucher auf Bewerbungsgespräche vorbereiten, bei einem entsprechenden Jobangebot jederzeit bereit, den Kurs abzubrechen.

Der Koblenzer Arbeitsmarktforschers Professor Stefan Sell, der sich seit Jahren für mehr öffentliche Transparenz auf dem Arbeitsmarkt einsetzt, nimmt die Bundesagentur dennoch in Schutz: „Die Bundesagentur veröffentlicht alles, man muss nur tief genug hineinsehen“. Tatsächlich findet, wer sucht, auch Kenngrößen jenseits der „Arbeitslosenzahlen“. Seit ein paar Jahren enthalten Pressemitteilungen der BA etwa die „Unterbeschäftigung“.

Hinter dem sperrigen und umgangssprachlich mehrdeutigen Begriff steckt die Summe aller Jobsucher, die gerade eine von der BA geförderte berufliche Weiterbildung absolvieren, in einer Arbeitsgelegenheit stecken, zu den erfolglos vermittelten älteren Hartz-IV-Beziehern gehören oder erkrankt sind. Im Dezember 2016 waren dies immerhin 3,565 Millionen Menschen - rund eine Million mehr als die Arbeitslosen-Statistik ausweist. Nimmt man es ganz genau, müsste man eigentlich noch jene Männer und Frauen dazurechnen, die Arbeitsmarktforscher unter dem Begriff „Stille Reserven“ zusammenfassen. Nach Schätzungen des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) waren das 2016 etwa 261.000. In diesem Jahr dürften es rund 271.000 sein.

Dabei ist es strittig, ob sie als Jobsucher im eigentlichen Sinne einzustufen sind. „Das sind“, so die Lesart der Bundesagentur, „beispielsweise Personen, die nicht direkt nach Arbeit suchen und sich deshalb auch nicht bei der örtlichen Arbeitsagentur als arbeitssuchend registrieren lassen, sondern vielmehr abwarten, ob sich ein passender Job anbietet“. Für andere besteht die Stille Reserve hingegen aus Menschen, die die häufig erfolglose Jobsuche resigniert aufgegeben haben.

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