Jürgen Trittin Vom Reichenschreck zum Unternehmerversteher

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Kalkulierend und fleißig

Das sind Europas größte Ökostädte
Platz 10: StockholmIn der schwedischen Hauptstadt wird nahezu gleichermaßen geradelt und zu Fuß gegangen. 19 Prozent der Stockholmer schwingen sich hauptsächlich auf das Fahrrad, 16 Prozent gehen zu Fuß. Gerade in der Innenstadt, die auf insgesamt 14 Inseln liegt, bietet es sich an, das Auto stehenzulassen. Quelle: dpa
Platz 9: DiyarbakirIn der zweitgrößte Stadt der Südosttürkei fährt niemand Fahrrad, dafür sind 36 Prozent der Bevölkerung hier zu Fuß unterwegs, was der türkischen Metropole den neunten Platz im Ranking einbringt. Quelle: dpa
Platz 8: GrazDie Landeshauptstadt der Steiermark in Österreich ist von vielen Fußgängerzonen geprägt. Zehn Prozent der Bevölkerung gehen hier zu Fuß. Auch das Radfahrnetz ist sehr gut ausgebaut. Grund dafür waren Aktivisten, die bereits 1980 einfach einen Radfahrstreifen auf der Straße einzeichneten und mit einem entsprechenden Symbol kennzeichneten. Für ihre Aktion wurden sie polizeilich abgestraft. Heute ist Graz eine äußerst radfahrerfreundliche Stadt. 28 Prozent der Bevölkerung steigen hier aufs Radl. 120 Kilometer Radwege sind angelegt. Bis 2035 will man 190 Kilometer realisieren. Quelle: dpa
Platz 7: AalborgIn der norddänischen Stadt Aalborg am Limfjord gehen lediglich vier Prozent der Bevölkerung zu Fuß, dafür steigen 37 Prozent auf das Fahrrad. Quelle: dpa
Platz 6: MalmöÄhnlich sieht es bei den südschwedischen Nachbarn aus. Acht Prozent der Malmöer gehen zu Fuß, dafür nehmen 37 Prozent regelmäßig das Fahrrad. Zum Bummeln bietet sich neben der Innenstadt vor allem der moderne Hafenstadtteil Västra Hamn mit seinen Restaurants, Cafés und dem Turning Torso, dem höchsten Gebäude Schwedens an. Außerdem ist die Infrastruktur für den Fahrradverkehr gut ausgebaut. Nach Angaben der Stadtverwaltung wird Malmö regelmäßig als radfahrerfreundlichste Stadt in Schweden bewertet. Quelle: dpa/dpaweb
Platz 5: OuluDie Finnen sind bekanntlich hart im nehmen. Wer bei Wind und Wetter schwimmen geht, lässt sich auch als Fußgänger und Radfahrer nicht lumpen. Zehn Prozent der Einwohner in der nordwestfinnischen Stadt gehen regelmäßig zu Fu, 28 Prozent radeln am liebsten. Quelle: dpa
Platz 4: OviedoIn der Hauptstadt der autonomen Gemeinschaft im Fürstentum Asturien im Norden Spaniens bewegt man sich gern. Jedenfalls zu Fuß. Wie in Diyarbakir fahren die Ovetenser kein Fahrrad. Dafür sind mit 48 Prozent fast die Hälfte der Einwohner regelmäßig per Pedes unterwegs. Quelle: dpa

Wohl machte ihn auch ein Herzinfarkt milder, den er Anfang 2010 erlitt. Ein Schock, dass er, der Schlanke, der Sportliche, seiner Veranlagung nicht davonlaufen konnte. Schnell war Trittin wieder fit, muss aber Medikamente schlucken.

Trittin ist kalkulierender Fleißarbeiter. Dazu gehört die Tingelei bei Wirtschaftsverbänden. Bisher luden die eher Parteichef Cem Özdemir ein, weil der eine verträgliche Mischung aus Ökoschauer und Bürgerlichkeit bot. Doch nun drängt sich Trittin an die Rednerpulte und Mittagstische der Wirtschaftsleute. Er will die Macht, und die Funktionäre suchen den Kontakt zum vielleicht bald Mächtigen, selbst die Energie- und Grünenfresser vom Stahlverband. Bei der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) war er im Oktober erstmals zu Gast.

Dort trat er mit schmalem, dunkelblauem Anzug samt dezent gestreiftem Binder auf; nur die störrische Strähne hoch über der Stirn hüpfte aus der Reihe. Trittin zeigte sich schneidend, schlau und seriös – nur nicht sympathisch. Er verlangte den Mindestlohn und eine Vermögensabgabe. Stotternde Energiewende? Schuld seien die etablierten Erzeuger, die den Umstieg torpedierten, und die Regierung, die durch zahlreiche Ausnahmen für die Industrie alles verteuere. Er nutzte den Auftritt zum „offenen Schlagabtausch“, als Schaukampf für die eigenen Wähler, dass er sich nicht zu sehr anpasst.

Kontrollierter

Doch bei all den Nadelstichen wirkt er weitaus kontrollierter als früher. Und beim Verband deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) war das Publikum ihm sogar zum Teil gewogen – schließlich verdienen viele Maschinenbauer an der staatlich verordneten Energiewende prächtig mit. Trittin, der keinen Führerschein besitzt und Staus auf der Autobahn früher als „kostenlose Lagerhaltung“ verspottete, outete sich vor den Unternehmern als technikbegeistert. Er lasse keine Hannover Messe aus, twittere eifrig und habe zu Hause allerlei neuestes Technikspielzeug. Der Rad fahrende Fraktionschef verkündete: „Wir waren immer stolz auf unsere Infrastruktur.“ Doch in Deutschland fehle Geld für Beton und Teer. „Wir können ja nicht mal mehr Straßen und Brücken erneuern.“

So gezähmt Trittin auftritt – sein Blick, stur an einen Punkt kurz oberhalb des Publikums geheftet, und der oft spöttisch verzogene Mund verraten nach wie vor Distanz. Nach der Rede beim VDMA lud ihn der Geschäftsführer der schwäbischen ebm-papst-Gruppe, Rainer Hundsdörfer, an seinen Stand und führte die neuesten Recyclinggehäuse für Ventilatoren vor. Der Firmenchef sieht Trittin nüchtern: „Die Kluft ist nicht mehr so groß.“ Energiesparen sei in der Industrie längst Standard. Die Ökopartei habe sich umgekehrt angenähert. „Die Grünen können auch rechnen.“

Er schätzt Merkel als schnörkellos und rational

Ist am Ende mit Trittin sogar eine schwarz-grüne Koalition in Berlin denkbar? An Trittin würde ein solches Bündnis weniger scheitern als an seiner Parteibasis. Er schätzt Angela Merkel als schnörkellos und rational. Gemeinsam haben sie, dass ihnen in ihrer Partei lange nicht der Platz ganz vorne zugedacht war.

Jetzt ist der Gehäutete dort angekommen und zeigt, wie unterschiedlich zur CDU sich Führungsleute der Grünen behaupten müssen. So blitzt immer noch der Reichenschreck von ganz früher durch. Neulich ließ er mal wieder Sätze wie diesen los: „Ein verschuldeter Staat zahlt den Leuten Zinsen, bei denen er sich vorher ordentliche Steuern nicht getraut hat.“ Peng. Ein bisschen Rabatz wird doch wohl erlaubt sein.

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