Jugendforscher Bernhard Heinzlmaier "Die Jugend ist leidenschaftslos und dekadent"

Mit Politik haben Jugendliche nichts im Sinn, sagt Bernhard Heinzlmaier. Statt der großen Freiheit gibt man sich mit Scheinindividualisierung zufrieden und ersetzt Revolten durch Ressentiment.

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Mode als Opium fürs (junge) Volk. Quelle: Fotolia

WirtschaftsWoche: „Jugendliche interessieren sich wieder mehr für Politik“ hieß es nach der aktuellen Shell-Jugendstudie. Sie glauben das nicht.  

Bernhard Heinzlmaier: Da hat man sehr selektiv Daten herausgezogen, die diese These stützen. Andere Daten aus derselben Studie zeigen, dass das Engagement in traditionellen politischen Organisationen, also vor allem Parteien, zurückgegangen ist. Es ist sowieso sehr zweifelhaft, so etwas abzufragen, weil gar nicht klar ist, was die Leute unter „Politik“ verstehen. Das steigende politische Interesse, das da festgestellt wird, bedeutet jedenfalls nicht steigendes Interesse an dem, was in unserem heutigen politischen System praktiziert wird. Man kann eindeutig sehen, dass die Politik aus den politischen Institutionen auswandert, so wie die Religion aus den Kirchen auswandert. Die jungen Leute engagieren sich eben nicht notwendigerweise in einer Partei, sondern in einer regionalen Initiativgruppe oder bei Greenpeace oder in der Bewegung für die Legalisierung von Cannabis. Zugenommen haben alle Formen des posttraditionellen Engagements. Abseits der klassischen politischen Organisationen und Strukturen. Abseits der Parteien, Gewerkschaften, Kirchen. Das ist ein Engagement, das spontan ist, sich nicht langfristig bindet. Das kann flüchtig und vorübergehend sein.

Das sollte unsere Politiker doch sehr beunruhigen.

Allerdings. In vielen kleinen Gemeinden und Dörfern findet man keine Kandidaten mehr für den Bürgermeister. Da müssen die alten Amtsinhaber immer wieder überredet werden, es nochmal zu machen, weil es kein anderer tun will. Das wird sich noch dramatisch ausweiten.

Bernhard Heinzlmaier. Quelle: PR

In Ihrem aktuellen Buch „Verleitung zur Unruhe“ raten Sie jungen Leuten aber auch, sich von politischen Parteien fernzuhalten.

Ich glaube, dass die heutigen Parteien den Charakter verderben. Die sind eine Negativauslese von egozentrischen Karrieristen. Gesellschaftlich bewegen können diese Parteien ohnehin nicht mehr viel. Da ist es für Jugendliche sinnvoller, Fußball zu spielen.

Im vergangenen September sah man an deutschen und österreichischen Bahnhöfen begeisterte junge Menschen mit Plakaten und Luftballons, die Flüchtlinge begrüßten. Wie ist das einzuordnen?

Ich würde das als Inszenierung, als Entäußerung der bürgerlichen Postmaterialisten bezeichnen. Das war die Kretschmann-Jugend, eine konservativ-grüne Jugend, die so ein Ereignis nutzt, um ihre moralische Überlegenheit gegenüber der Masse zu demonstrieren. Diese jungen Leute gehören zu den Privilegierten, die von der Flüchtlingswelle nichts zu befürchten haben. Die Zeche bezahlen ja die Unterschicht und die untere Mittelschicht.

Zur Person

Sie beklagen die zerstörerische Individualisierung der Jugend. Mit Individualisierung verbindet man eigentlich eher etwas Positives, Emanzipatorisches.

Jeder Mensch hat das Bedürfnis, sich von seiner Gruppe, der Gemeinschaft, der Gesellschaft abzuheben. Auf der anderen Seite hat er aber auch das Bedürfnis, sich zu integrieren. In dieser Spannung zwischen beiden Polen steht das ganze menschliche Leben. Ich stelle fest, dass dieser erste Pol, sich zu individualisieren, in den letzten Jahren sehr viel stärker geworden ist. Mittlerweile ist das eher ein Egozentrismus, der sich vor jeder Verbindlichkeit drückt, der sich aus der Gemeinschaft verabschiedet, sich ihr nicht mehr moralisch verpflichtet fühlt, sondern nur noch den eigenen Interessen folgt.

Und warum ist das Ihrer Ansicht nach so?

Ich denke, das ist eine Folge der Ökonomisierung der Gesellschaft. Der alte Industriekapitalismus kannte eine gesichtslose Masse der Werktätigen, die an den Fließbändern redundante Arbeit verrichteten. Da war kein Individuum gefragt. Heute ist das freie Engagement des Angestellten die größte Produktivkraft. Eines autonomen Menschen, der Kreativität entfaltet, seine Fantasie einbringt, spontan ist. Heute greift also die Wirtschaft nach dem ganzen Menschen, nach dem Individuum. Wenn aber der Individualismus zur Pflicht für alle wird, entsteht eine homogen denkende und handelnde pseudoindividuelle Masse, in der der Einzelne sich das Gefühl gibt, etwas Besonderes zu sein. Ein Medium, mit dem man diese Illusion aufrecht erhält, ist die Mode. 

Ressentiment statt Rebellion

In der alten Industriegesellschaft drohte stets die Revolte unzufriedener junger Menschen. Für die Jugend von heute ist das anscheinend kaum eine Option. Könnte sich das irgendwann wieder ändern?

Ich glaube, dass aus der saturierten gesellschaftlichen Mitte kein politisches Engagement kommen wird, trotz Abstiegsängsten. Diese Mitte neigt weniger zur Rebellion als zum Ressentiment. Das äußert sich, indem sie AfD wählen. Ein degeneriertes Bürgertum, das nicht mehr teilen und nichts abgeben möchte. Das sind Leute, die einen versteckten Groll spüren und die Faust in der Tasche ballen. Wenn es den Geist der Rebellion noch gibt, kommt er aus den unteren Schichten, aus dem Hartz-IV-Milieu, und orientiert sich eher nach rechts.

Machen Sie in Ihren Untersuchungen große Unterschiede zwischen heimischen Jugendlichen und solchen mit Einwanderungsgeschichte aus?

Ja, sehr große Unterschiede. Die heimische Jugend ist anpassungsbereit, müde, träge, leidenschaftslos, dekadent. Die migrantischen Jugendlichen dagegen haben Energie und Leidenschaft, sind vital und durchsetzungsfreudig. Die ziehen sich nicht zurück, wenn es einen Konflikt gibt. Auch wenn der Konflikt mit Fäusten ausgetragen wird.

Was Deutschlands Jugend wichtig ist
Ihre Familie hat für die meisten Jugendlichen einen hohen Stellenwert. Quelle: dpa
Ein sicherer Job ist fast allen (95 Prozent) wichtig oder sehr wichtig. Karriere ist aber eher zweitrangig Quelle: dpa
Etwa jeder dritte Jugendliche ist in der Freizeit gesellig Quelle: dpa
72 Prozent gehen nach eigener Aussage vorsichtig mit ihren Daten um Quelle: dpa
Das Interesse der Jugend an Politik steigt. Quelle: dpa
62 Prozent der Jugendlichen sind stolz, Deutsche zu sein. Quelle: dpa
Freundschaft, Partnerschaft und Familie stehen ganz oben Quelle: dpa

Von der Generation Y, die in ihrem Arbeitsleben nach Sinn und Selbstverwirklichung sucht, ist in Ihren Analysen keine Rede.

Ich halte die so genannte Generation Y für einen Marketing-Gag der Berater-Branche. Die Eigenschaften der Generation Y treffen nur auf eine kleine Minderheit des Alterssegments zu, nämlich auf die 15 Prozent der Arbeitsmarktelite. Das ist das Performer-Milieu der Leute, für die sich McKinsey interessiert. Die junge Frau an der Kasse vom Penny-Markt gehört nicht zur Generation Y. Die sucht keinen Sinn bei ihrer Arbeit – da würde sie ja verrückt. Sie weiß, dass sie nie Karriere machen wird. Und die Frage nach der Work-Life-Balance stellt sich ihr auch nicht.

Ihr aktuelles Buch heißt im Untertitel „Zur Hölle mit den Optimisten“. Aber gehört der Optimismus nicht notwendigerweise zur Jugend?

Ich habe natürlich nichts dagegen, dass die jungen Leute glauben, dass ihr Leben einen positiven Verlauf nehmen wird. Was ich ablehne, ist der heute herrschende repressive Optimismus. Er wird zur Pflicht gemacht, weil der optimistische Mensch produktiver ist und die bestehenden Verhältnisse nicht in Frage stellt. Dazu gehört auch dieser idiotische, spirituelle Optimismus: Wenn man etwas wirklich will, dann bekommt man es auch. Das bedeutet dann natürlich auch, dass jedes Scheitern der persönlichen Verantwortung des Gescheiterten überantwortet wird.

Sie gehen mit der heutigen Jugend ziemlich hart ins Gericht. Aber gleichzeitig erleben wir das historisch einzigartige Phänomen, dass die Jugend in mancherlei Hinsicht zum Vorbild der Älteren wird. Es gibt grauhaarige Männer, die sich anziehen und benehmen wie ihre eigenen Söhne.

In Thomas Manns „Der Tod in Venedig“ gibt es diese Figur des jugendlich gekleideten Mannes auf dem Schiff. Als er sich umdreht, merkt man erst, dass er ein altes Gesicht hat. Damals, 1911, war das eine lächerliche Figur. Heute ist es eine Pflicht, die dem alten Menschen auferlegt wird. Man hat sich möglichst aktiv und fit zu halten und auch so zu benehmen. Wer nicht mehr jung ist, gehört nicht mehr dazu. Man muss sich also als jung präsentieren, auch durch den Kleidungsstil. Alte Menschen bekommen keine Anerkennung mehr, weil sie nichts mehr leisten.

Womit die Jugend als eigener Lebensabschnitt abgeschafft wäre.

Ja. Ein Begriff, der verallgemeinert wird, verliert jede Bedeutung. Wenn alle jugendlich sind, kann man auch gleich Mensch sagen. Und die wirklich Alten verbirgt man in Altenheimen.



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