Kanzlerin Angela Merkel muss sich in diesen Tagen viel offene Kritik anhören. Ihre Politik der Willkommenskultur sei töricht, eine Grenzschließung die einzige Option, so tönt es ihr von Vertretern der AfD bis zu Leuten in der Union entgegen. Damit kann die Kanzlerin leben, sie ist kampferprobt. Irritierender – und gefährlicher – ist für sie Kritik, die als Lob verkleidet daher kommt. Noch dazu vorgetragen von einer der wichtigsten Frauen ihrer Partei, CDU-Vizechefin Julia Klöckner.
Die Spitzenkandidatin der CDU in Rheinland-Pfalz betont bei Auftritten in ihrem Wahlkreis nämlich demonstrativ ihre Rückendeckung für Merkel. „Glauben Sie mir: Die Frau geht an ihre Grenzen“, warb sie etwa gerade in der Kleinstadt Alzey.
Doch über das Wochenende stellte Klöckner zugleich unmissverständlich klar, dass sie eine Grenze einziehen will. In einem Strategiepapier forderte sie härtere nationale Maßnahmen, um die Flüchtlingszahlen in Deutschland zu begrenzen. „Wir sprechen bewusst nicht von einem Plan B, denn Plan A ist nicht gescheitert“, heißt es zwar von Klöckner. Ihr „Plan A2“ sei vielmehr als „Ergänzung“ zu Merkels europäischer Lösung zu verstehen, beteuerte sie.
Die Rheinland-Pfälzerin will weiterhin als Merkel-Unterstützerin wahrgenommen werden, schließlich bleibt diese (vorerst) die starke Frau in der Union. Doch alle rhetorischen Finessen können nicht verdecken: Mit ihren Forderungen distanziert sich Klöckner eindeutig von der Kanzlerin.
Die Aufnahme von Flüchtlingen soll nach den Vorschlägen Klöckners nur noch über Grenz- und Registrierzentren sowie Hotspots außerhalb Deutschlands möglich sein. An der Grenze zu Österreich könnte es demnach Grenzzentren geben, in Italien und Griechenland Hotspots und in der Türkei Registrierzentren.
Die Worte Obergrenze oder Grenzschließung tauchen im Papier der CDU-Vizechefin nicht auf. Vielmehr präferiert sie „flexible Kontingente“, mit denen sie Flüchtlinge nach tagesaktuellen Erwägungen ins Land holt. Haben Kommunen und Länder Kapazitäten, können Flüchtlinge einreisen. Wenn nicht, müssen sie draußen bleiben.
Nach dem Asylpaket ist vor dem Asylpaket
Eine starre Obergrenze von 200.000 Personen, so wie es die CSU fordert, ist im Klöckner-Szenario nicht vorgesehen. Ebenso fehlt aber die Antwort auf eine ganz zentrale Frage: Wer legt fest, ob ein Bundesland oder eine Kommune noch Kapazitäten hat? Die zuständigen Bürgermeister, die Ministerpräsidenten oder gar die Kanzlerin höchstpersönlich?
Entsprechend entrüstet zeigen sich die Sozialdemokraten. SPD-Vizechef Ralf Stegner spricht von einem „Anti-Merkel-Plan“, bei dem längst verworfene Ideen wiederbelebt werden sollen.
Reaktionen zu möglichen Grenzschließungen
Anton Börner, Präsident des Außenhandelsverband BGA, warnt im "Tagesspiegel" vor Grenzschließungen. Rund 70 Prozent des deutschen Außenhandels würden innerhalb Europas abgewickelt. "Vor diesem Hintergrund werden sich die Kosten alleine für die internationalen Straßentransporte um circa drei Milliarden Euro verteuern."
"Durch Staus und Wartezeiten, zusätzliche Bürokratie oder zum Beispiel die Umstellung von Just-in-time-Lieferung auf deutlich teurere Lagerhaltung können sich die Kosten für die deutsche Wirtschaft schnell auf zehn Milliarden Euro pro Jahr summieren", mahnt DIHK-Geschäftsführer Martin Wansleben.
Der Vize-Präsident des Europaparlaments, Alexander Graf Lambsdorff (FDP), sagte der "Rheinischen Post": „Die Schließung der deutschen Grenzen wäre ein Debakel für die Flüchtlinge, für die Wirtschaft, aber auch für Millionen Pendler und Urlauber.“
"Verstärkte Kontrollen ist was anderes, aber eine komplette Schließung ist absolut illusorisch. Und man sollte den Leuten da keine Scheinlösungen anbieten“, sagte SPD-Generalsekretärin Katarina Barley im Deutschlandfunk.
"Wenn die Grenzen geschlossen würden, ist Schengen gefährdet. Das hat ebenfalls große Auswirkungen auf Deutschland, auf Arbeitsplätze in Deutschland", sagte der nordrhein-westfälische CDU-Landesvorsitzende Armin Laschet.
Anfang November hatten sich die Vorsitzenden der Großen Koalition bereits auf beschleunigte Asylverfahren und Registrierungszentren verständigt. Zuvor hatte die CSU vehement für Transitzonen geworben und die Schwesterpartei CDU und den Koalitionspartner SPD gegen sich aufgebracht. CSU-Chef Seehofer konnte sich letztlich nicht durchsetzen. Das Argument der Gegner von Transitzonen – Flüchtlinge befänden sich de facto in Haft, während sie in einer Transitzone auf ihren Asylbescheid warten – konnten die Christsozialen nicht überzeugend widerlegen.
Seitdem ist wenig passiert. Das sogenannte Asylpaket II steht weiterhin zur „Abstimmung“, wie es aus zu den zuständigen Ministerien heißt. Kurz: CDU, CSU und SPD können sich nicht einigen. Der größte Knackpunkt ist der Familiennachzug. Die Union will den für einen Großteil der Flüchtlinge für zwei Jahre aussetzen.
Die SPD hingegen möchte Syrer von dieser Regelung ausnehmen. CDU und CSU arbeiten an Plänen, wonach ein Familiennachzug erlaubt werden könne, wenn eine Ehe bereits über einen längeren Zeitpunkt besteht und Kinder vorhanden seien. Die SPD sträubt sich.
Diese Woche könnte das Asylpaket II im Kabinett abgesegnet werden, aber nur vielleicht – und damit in jedem Fall schon rund drei Monate, nachdem sich Union und SPD darauf verständigt haben. Danach, das ist die Lehre dieses Wochenendes, könnte der Grundsatzstreit erneut losbrechen.
Mit Klöckners Plan B, der nicht so heißen darf, stehen erneut Transitzonen und eine flexible Obergrenze auf der Agenda, welche der SPD lange als tabu galten. Längst macht in Berlin der Begriff eines „Asylpakets III“ die Runde. Die Große Koalition wird in der Flüchtlingsfrage in absehbarer Zeit also nicht zur Ruhe kommen. Und Julia Klöckner dürfte zumindest in einem Punkt Recht behalten: Die Kanzlerin wird an ihre Grenzen gehen müssen.