Sich als Verbraucher vor Gericht mit großen Unternehmen anzulegen, ist riskant und nicht einfach. Künftig sollen Verbraucherverbände dies stellvertretend für Gruppen von Betroffenen übernehmen können. Was die geplante neue Musterfeststellungsklage bringt - und wie sie funktioniert, erklärt Astrid Stadler. Die Jura-Professorin lehrt an der Universität Konstanz Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht, Rechtsvergleichung und internationales Privatrecht.
Frau Professor Stadler, Justizministerin Barley sagt, dass die Verbraucher mit der Musterklage stärker auf Augenhöhe mit den Unternehmen sein werden. Hat Sie Recht?
Nein, weil das nur in ganz wenigen Fällen so eintreffen wird, wie Frau Barley sich das vorstellt. In vielen anderen Fällen wird sich für den Verbraucher nicht viel verbessern.
In welchen Fällen findet denn Augenhöhe statt?
Das wird vielleicht in Fällen eintreten, wo, wie im VW-Fall, die individuellen Schäden relativ hoch sind und sich jemand nach einem erfolgreichen Musterverfahren doch noch aufrafft, individuell gegen VW zu klagen. Aber im Grunde ist natürlich nicht der Verbraucher auf Augenhöhe mit VW, sondern allenfalls der klagende Verband. Es geht ja zunächst darum, ein Feststellungsurteil zu erwirken.
Dann wäre das neue Klageinstrument für die Betroffenen des VW-Dieselskandals ein Fortschritt?
Im Hinblick auf die Schadenshöhen des Einzelnen, ja. Aber es sind ja schon relativ viele Ansprüche verjährt. Insofern kommt die Musterklage etwas spät. Aber für Fälle, die noch nicht verjährt sind, besteht die Chance, hochstreitige Rechtsfragen durch die Musterfeststellung zu klären.
Es laufen ja schon Klagen gegen Volkswagen. So hat im November der Rechtsdienstleister MyRight für 15.000 VW-Kunden beim Braunschweiger Landgericht Klage eingereicht. Machen solche Verfahren die Musterklage nicht überflüssig?
Die Möglichkeit, die MyRight bietet, ist nicht ganz billig für den Verbraucher. Sie bieten zwar die Chance, dass ohne Risiko prozessiert werden kann, weil im Fall einer Niederlage MyRight alle Kosten übernimmt. Wird aber die Klage gewonnen, beansprucht MyRight 35 Prozent der Summe, die VW bezahlen muss. Das ist ein relativ hoher Preis und das sollte man nicht jedem Verbraucher zumuten.
Dann ist das Kostenrisiko bei der Musterklage deutlich geringer?
Die Musterklage ist zweistufig. Das Risiko, ob die Musterfeststellung erfolgreich ist, trägt der klagende Verband. Wenn die Klage erfolgreich ist, dann besteht je nach Fallkonstellation aber durchaus ein Restrisiko für den Verbraucher. Denn es muss ja dann in einer zweiten Stufe der individuelle Schaden bewiesen werden, der aus der Rechtsverletzung entstanden ist.
Und das kann ein Problem sein?
Das mag im VW-Fall relativ einfach sein. Aber in Produkthaftungsfällen, etwa im medizinischen Bereich, wird das schwierig werden. Sie müssen ja immer nachweisen, dass und wie Sie geschädigt wurden.
Welche Vorteile bietet dann die Musterklage?
In vielen Fällen, wie bei VW, liegt das Hauptproblem darin, ob VW oder die Händler Schadenersatz zahlen oder die Fahrzeuge zurücknehmen müssen. Diese Frage lässt sich in der Musterfeststellung klären. Damit ist ein Teil des Risikos von den Geschädigten genommen.
Und der Verband trägt das größere Risiko.
Ja. Und darin sehe ich wiederum ein Problem. Denn die Verbände können nur begrenzt solche Risiken schultern. Im VW-Fall können sie das vielleicht einmalig tun. Wenn aber dann der nächste Fall in ähnlicher Dimension ansteht, dann könnte es finanziell schwierig werden, das Risiko abzusichern.
Die wichtigsten Fakten zur Musterfeststellungsklage
Klageberechtigt sind nicht die Verbraucher, sondern bestimmte Verbände. Um Missbrauch etwa durch neu gegründete Scheinverbände auszuschließen, sieht der Entwurf eine Reihe von Beschränkungen vor. Nur Dachverbände mit mindestens zehn Mitgliedsverbänden oder mindestens 350 Mitgliedern dürfen klagen. Die Organisationen müssen seit mindestens vier Jahren in einer vom Bundesamt für Justiz geführten Liste erfasst sein. Außerdem müssen sich die Verbände nachweislich auf Verbraucherinteressen konzentrieren und sich höchstens zu fünf Prozent aus Zuwendungen von Unternehmen finanzieren.
Voraussetzung für eine MFK sind zehn Verbraucher, die den gleichen Schaden vom selben Urheber glaubhaft machen können. Der Verband meldet dann die Klage an, beim Bundesamt für Justiz wird eine Klageregister eingerichtet. Nun startet eine Frist von zwei Monaten innerhalb der sich mindestens 50 Geschädigte in das Register eintragen müssen. Erst dann kann der Prozess vor einem Landgericht starten. Mit der Eintragung in das Register wird für die Verbraucher die Verjährung ihrer Schadensersatzansprüche gestoppt. Eine weitere Musterfeststellungsklage in der selben Sache kann von einem anderen Verband nicht erhoben werden. Verbraucher können nicht zweigleisig fahren: Wer sich einer MFK angeschlossen hat, kann nicht gleichzeitig in derselben Sache selbst klagen.
Mit dem Prozess soll ein Schaden und dessen Verursacher von Gericht festgestellt werden. Endet eine Musterfeststellungsklage aus Verbands-Sicht erfolgreich, können die Verbraucher wesentlich einfacher ihre Schadensansprüche stellen, denn sie müssen keinen Verlust mehr nachweisen. Eine MFK kann aber auch in einem Vergleich enden. Beide Prozessparteien können sich dann auf eine bestimmte Entschädigung einigen, die jedem in dem Klageregister aufgeführten Verbraucher zusteht. Verliert der Verband die Klage, sind den Verbrauchern zumindest keine Kosten entstanden und sie können die Prozessrisiken bei einem individuellen Verfahren besser abschätzen.
Die Musterfeststellungsklage soll laut Koalitionsvertrag am 1. November 2018 in Kraft treten. Die Koalitionäre wollen damit verhindern, dass die Schadensersatzansprüche der Besitzer von VW-Diesel-Kfz mit manipulierender Abgas-Steuerung verjähren. Der Gesetzentwurf muss nun durch die Bundestagsberatungen gehen. Der Bundesrat muss dem Gesetz nicht zustimmen, damit es wirksam werden kann.
Haben die Verbände ausreichend Sachverstand, um solche Verfahren führen zu können?
Der Bundesverband der Verbraucherzentralen hat natürlich Prozesserfahrung, aber nicht mit solchen Massenverfahren. Sie führen seit vielen Jahren erfolgreich Unterlassungsklagen. Und sie greifen sich manchmal einzelne Fälle heraus und führen ein Musterverfahren. Aber man darf den Aufwand, der in einem Musterfeststellungsverfahren mit ganz vielen Geschädigten im Hintergrund steckt, nicht unterschätzen. Das bedeutet einen hohen personellen Aufwand. Und juristisch haben solche Verfahren eine andere Qualität, als wenn man nur auf Unterlassung klagt.
Was folgt daraus für die Verbände?
Wenn die Verbände das wirklich auch nur annähernd flächendeckend stemmen wollen, was ihnen der Gesetzgeber aufbürdet, brauchen sie erheblich mehr Personal und Finanzmittel.
Dann müsste der Staat die Verbraucherschützer stärker fördern.
Die Verbraucherzentralen sind überwiegend aus Steuergeldern finanziert. Diese Mittel müssten ganz erheblich aufgestockt werden. Es sei denn, man würde dem Verbraucherzentrale Bundesverband VZBV oder einem anderen Kläger zubilligen, dass er mit einem Prozessfinanzierer zusammenarbeitet. Aber das würde von vorneherein bedeuten, dass man auf einen Teil der Schadenersatzansprüche verzichtet. Das kann ein Verband aber nicht einfach so tun, das müsste jeder einzelne Verbraucher selbst entscheiden.
Dann agieren ja selbst die Verbände nicht auf Augenhöhe mit den Unternehmen, weil diese ja im Zweifel mehr Geld zur Verfügung haben, um eine juristische Auseinandersetzung zu führen.
Diese Unternehmen engagieren große Anwaltskanzleien. Und sie haben in solchen Fällen auch finanziell den längeren Atem. Man darf nicht die Illusion haben, dass VW sich sofort auf einen Vergleich einlässt, wenn die Verbraucherzentralen ein Verfahren anstrengen. Insoweit muss man sich schon auf eine lange Prozessdauer einstellen. Im Zweifel wird das Musterfeststellungsverfahren bis zum Bundesgerichtshof gehen müssen. Das ist dann auch für den klagenden Verband relativ teuer.
Werden die Verbraucher Ihrer Einschätzung nach einem Feststellungsurteil überhaupt den nächsten Schritt gehen und ihre Ansprüche individuell einklagen?
Nach meiner Erfahrung tun die Verbraucher das nicht. Das zeigen schon die Unterlassungsklagen, die Verbraucherverbände bisher erfolgreich durchgefochten haben. Etwa wenn Allgemeine Geschäftsbedingungen unwirksam sind und deshalb unzulässigerweise Gebühren erhoben werden, zum Beispiel bei Banken oder in der Reisebranche.
Es war dann in der Vergangenheit keineswegs so, dass diejenigen, die aufgrund rechtswidriger AGBs zu viel Geld gezahlt hatten, das in nennenswertem Umfang eingeklagt hätten. Soll heißen: Wenn Sie um 200 oder 300 Euro prozessieren müssten, dann tun Sie das auch nicht, wenn es nach einem Musterverfahren ein Feststellungsurteil gibt. Vom Aufwand her lohnt sich das nicht.