Kampf um britische Unternehmen Gerangel um Brexit-Firmen - mit Grünkohl, Bretzel und Hightech-Zirkus

Nach dem Brexit riechen Wirtschaftsförderer das große Geschäft: Hunderte Unternehmen könnten eine neue Heimat auf dem Kontinent suchen. Unter deutschen Städten ist ein Wettkampf um diese Firmen ausgebrochen.

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Stefan Franzke, Chef der Berliner Wirtschaftsförderung, mit dem Roboter eines Berliner Start-ups. Quelle: Chris Gloag für WirtschaftsWoche

Als Stefan Franzke den Briten sagt, dass es mit ihnen nun endgültig vorbei ist, da hat er seinen Tag gerade erst begonnen. Franzke, ein schlaksiger, immer etwas nervöser Mann im schmalen, dunkelblauen Anzug, die Haare leicht gegelt, den Bart sauber ausrasiert, hannoveraner Hochdeutsch, etwas holpriges Englisch, steht in einem Ladenlokal im hippen und teuren Londoner Stadtteil Soho. Unter der Decke rote Luftballons mit dem Berliner Stadtlogo. Aus dem Schaufenster grüßt ein „humanoider“ Roboter aus der Hauptstadt. In der Ecke summt eine Drohne, die Osram mit einem Start-up von der Spree entwickelt, irgendwo knistert ein 3-D-Drucker natürlich aus Berlin. Dazwischen Franzke.

Es ist kurz vor zehn. Um den Chef der hauptstädtischen Wirtschaftsförderung, Berlin Partner genannt, drängt sich alles: Reporter, Blogger, Fernsehteams, die Gründer wegen denen Franzke den ganzen Zinnober hier veranstaltet. 50 Besucher auf 20 Quadratmetern.

Franzke wird später sagen, es sei gut besucht gewesen. Er war an diesem Wintermontag schon im britischen Frühstücksfernsehen zu Gast. Nun eröffnet er den Popup-Store, mit dem die deutsche in der englischen Hauptstadt eine Woche lang zeigen will, was sie alles noch so drauf hat außer billigem Bier und günstigen Mieten. So will Franzke um Unternehmen buhlen, die nach dem Brexit-Votum die Nase voll haben von der Insel.

Er ruft: „Ich bedauere den Brexit. Aber für Berlin ist das eine riesige Chance.“ Mit 40 Firmen, sagt er, spreche man derzeit detailliert über Umzugspläne. Mit fünf gebe es bereits Vereinbarungen. „Berlin ist die vibrierendste Stadt auf dem Kontinent“, sagt Franzke. Was natürlich gleichzeitig bedeutet: Alle anderen Kommunen können einpacken, bitteschön.

"Die Entscheidung von Frau May ist konsequent"
Sigmar Gabriel:Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel hat die Konkretisierung der britischen Brexit-Pläne durch Premierministerin Theresa May als Beitrag zu mehr Klarheit begrüßt. "Die Entscheidung von Frau May ist konsequent. Es ist gut, dass endlich etwas mehr Klarheit darüber besteht, wohin Großbritannien steuert", sagte er am Dienstag. Ein Rosinenpicken der Briten, das Bewahren von Binnenmarkt-Vorteilen trotz EU-Austritts, werde es nicht geben. "Wichtig ist nun, dass wir schnell in ein geordnetes Verfahren kommen", merkte Gabriel zur Ablauf des Brexit an. "Gut ist auch, dass die britische Premierministerin klar gemacht hat, dass sie eine enge Kooperation mit der EU anstrebt", sagte der Minister. Großbritannien bleibe ein Teil Europas und ein befreundeter Staat, den man auch brauche, um die globalen Probleme lösen. Quelle: dpa
Clemens Fuest:Ifo-Präsident Clemens Fuest hat die Bundesregierung und die EU vor Strafaktionen gegen Großbritannien gewarnt. „Europa sollte ein möglichst umfassendes Freihandelsabkommen mit Großbritannien abschließen, das auch bei Dienstleistungen eine enge wirtschaftliche Integration aufrecht erhält“, sagte der Wirtschaftsforscher. So lasse sich der Schaden des Brexit für beide Seiten minimieren. „Die Debatte über angebliches Rosinenpicken muss aufhören, dieser Vorwurf vergiftet die Atmosphäre und führt nur zu einer Verhärtung der Fronten“, warnte Fuest. Quelle: dpa
Nicola Sturgeon.Der ankündigte harte Bruch mit der EU wäre nach Ansicht der schottischen Regierung eine "wirtschaftliche Katastrophe". Schottland habe nicht für diesen Kurs gestimmt, beklagt Regierungschefin Nicola Sturgeon. Die Regierung in London dürfe Schottland nicht aus der EU reißen, ohne dass die Schotten über eine andere Zukunft entscheiden könnten. Quelle: REUTERS
Volker Kauder:Unionsfraktionschef Volker Kauder kündigt eine harte Haltung gegenüber Großbritannien an. Wenn es einen Abbruch der Beziehungen wolle, sei dies so. Aber dann könne es auch nicht mehr mit den Vorteilen der EU rechnen, sagt der CDU-Politiker. Quelle: dpa
Thomas Oppermann:SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann sagt: "Wer einen harten Bruch will, soll ihn bekommen." Er warnt gleichzeitig vor britischen Drohungen, EU-Produkte vom britischen Markt auszuschließen. "Man sollte sich auf keinen Fall wechselseitig mit Drohungen konfrontieren. Was der eine androht, kann auch der andere jeweils umsetzen." Quelle: dpa
Volker Treier:Die britischen Brexit-Pläne schaffen nach Einschätzung von DIHK-Außenwirtschaftschef Volker Treier mehr Klarheit und geben den Unternehmen damit mehr Planungssicherheit. "Der Brexit beschränkt die Wachstumsmöglichkeiten beiderseits der Ärmelkanals." Deutsche Firmen würden nun vermutlich weniger in Großbritannien investieren. Quelle: dpa
Elmar Brok: Ein Ausscheiden Großbritanniens aus dem Binnenmarkt und der Zollunion birgt nach Auffassung des EU-Politikers Elmar Brok (CDU) mehr Nachteile für die Briten als für die anderen EU-Mitgliedstaaten. Die Linie der EU sei klar, sagte der Christdemokrat. „Niemand, der aus der Gemeinschaft austritt, darf sich durch europäisches Entgegenkommen belohnt fühlen. Wir wollen schließlich keine Nachahmer.“ Es sei ein Londoner Irrglaube, zu denken, ein Austritt lasse sich von heute auf morgen durch ein privilegiertes Handelsabkommen mit den USA kompensieren, so Brok. Deutschland sei für Großbritannien vor den USA im Warenhandel der wichtigste Handelspartner, sagte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im EU-Parlament. Quelle: dpa

Und so ist die Show des Berliner Wirtschaftsförderers zuallererst eine Kampfansage an seine deutschen Kollegen. An die Lobbyisten aus Stuttgart oder München, Frankfurt, Hamburg oder Düsseldorf, die wie er seit Wochen über der Frage brüten, wie sie sich gegenseitig beim Buhlen um die Brexiteers ausstechen können. Sie wittern das große Geschäft. Gerade erst stellte eine Studie der Unternehmensberatung Ernst & Young fest, dass 40 Prozent der ausländischen Firmen nach dem Brexit Deutschland als attraktiven Standort schätzen. Für mehr als die Hälfte der bisher im Vereinigten Königreich aktiven Firmen wäre Deutschland der bevorzugte Standort in Europa.

In der vergangenen Woche stimmte das britische Unterhaus formal dem Austrittsgesetz von Premierministerin Theresa May zu. Ab heute debattiert das Oberhaus darüber. Im März dann schon will die Regierung in Brüssel offiziell ihr Ausscheiden aus der Europäischen Union beantragen. Das Vereinigte Königreich macht Ernst. Und so bereitet man sich auch in den deutschen Rathäusern auf den Konkurrenzkampf vor.

Das sagen Ökonomen zum Brexit-Entscheid

Uwe Becker etwa hat deshalb Englisch geübt. Frankfurts Stadtkämmerer trägt wenig Haupthaar aber einen gut-sitzenden Anzug. Man will ja nicht provinziell wirken. Nicht hier, auf dem europäischen Bankenkongress in der Alten Oper, bei dem sich die Hautevolee der Szene trifft. Die Veranstaltung ist so ziemlich das Gegenteil des Berliner Popups. Doch auch in Frankfurt geht es in diesem Jahr nur um den Brexit. Deshalb erklärt Uwe Becker nun den Bankern in geschliffenem Englisch, dass es ihm Leid tue mit dem Brexit. Ein schwarzer Tag für Europa sei das gewesen. „Aber jetzt müssen wir uns um die Zukunft kümmern: Wir werden alles tun, um zu zeigen, dass Frankfurt die beste Alternative zu London ist.“ Und: „Es gibt in Europa nur einen Platz für Finanz-Start-ups: Frankfurt.“

Das Becker das so betonen muss, liegt vor allem an den Berlinern. Sie haben in den vergangenen Monaten besonders um sogenannte „Fintechs“ geworben – Startups aus der Finanz- und Versicherungsbranche, die den altmodischen Wirtschaftszweig aufrollen wollen. Bisher war man am Main davon ausgegangen, dass diese Jungunternehmen natürlicherweise dorthin ziehen würden, wo das große Geld schon jetzt wohnt. Bisher aber will sich das nicht so recht einstellen. Stattdessen häufen sie sich eher in an der Spree. Wer das Geschäftsmodell der Banken und Versicherer angreifen will, so das gängige Argument der Jungunternehmer, der studiert womöglich besser zunächst aus der Ferne die Schwächen der Branche. Und was der gesetzten Mainmetropole ferner als die wuselige Hauptstadt? So ist man in Frankfurt mittlerweile kleinlauter geworden, denkt gar über eine gemeinsame deutsche Post-Brexit-Standortwerbung nach, damit es auch gerecht zugeht.

Berlin wirbt offensiv

Andere Städte sind da selbstbewusster. Düsseldorf etwa, wo Vodafone seit der spektakulären Übernahme des Mannesmann-Konzerns von bald 20 Jahren seinen größten Sitz außerhalb Großbritanniens unterhält. Warum sollte man nicht jetzt versuchen, die ganze Zentrale an den Rhein zu locken, fragt man sich im Rathaus. Oder etwa die Japaner. Schließlich ist man schon heute nach London zweithäufigster Sitz von Europazentralen japanischer Konzerne. „Brexit and its implications for japanese companies“ betitelte also neulich der Düsseldorfer Oberbürgermeister eine Veranstaltung. Sie sei „gut angenommen worden“, sagte Thomas Geisel später und zählte mehr als 120 Unternehmen.

Mittag im Berliner Popup-Lab in London SoHo. Es gibt jetzt geröstetes Graubrot in der essbaren Schale und Drinks aus einem Kühlschrank, den ein Schild als „Berliner Späti“ ausweist. Daneben steht Stefan Franzke und gibt sein zwölftes Interview an diesem Tag. Die Reporterin macht sich Sorgen um London. Man sei doch, sagt sie, bisher Europas Start-up-Hauptstadt gewesen. Und nun komme Berlin und nehme ihnen all die Talente und die jungen Firmen weg? Franzke ist etwas stutzig. Er sagt: „Im nächsten Jahr wird Berlin London als Tech-Hauptstadt überholen. Ich war nicht für den Brexit. Aber alles in allem ist er eine gute Sache für Berlin.“

Sie nutzen also unsere Situation aus? „Nein, wir bauen Brücken. Aber viele Firmen wollen eben in Berlin Geschäfte machen.“ Sie machen denen ja auch Angst und locken sie so aufs Festland. „Der Brexit ist ja auch eine Gefahr. Wenn man die Türen zumacht, dann sperrt man die Talente ein. So verliert man sie.“

Diese Unternehmen spüren schon den Brexit
Vodafone Quelle: REUTERS
Ryanair Quelle: dpa
Easyjet Quelle: REUTERS
IAG Quelle: REUTERS
Virgin Quelle: dpa
Airbus Quelle: dpa
Siemens Quelle: REUTERS

Franzke freut sich über das Medieninteresse. Aber er merkt auch, dass seine Offensive nicht überall gut ankommt. Auch in Deutschland sind er und seine Aktionen inzwischen berühmt – und berüchtigt. Eigentlich wollte er mit seiner Berlin-Schau nach New York. Dann kam der Brexit. Und Franzke schmiss den Plan um, mietete sich in London ein.

In so manchem bundesrepublikanischen Rathaus wurde dieser Aktionismus anfangs belächelt, mitunter ungläubig bestaunt. Inzwischen aber sind die vorherrschenden Gefühle: Neid und Angst.

Bis in den Deutschen Städtetag hat es der Name des Berliner Wirtschaftsförderers inzwischen geschafft. Nachdem Franzke diesen Sommer mit seinem Berlin-Zirkus in München gastierte, um auch dort die Jungunternehmer abzuwerben, beschwerten sich die Bayern – selbst interessiert, sich als Start-up-Metropole zu inszenieren – über das offensive Vorgehen der Konkurrenz. Es gehöre eben zu den „klassischen Aufgaben“ der Städte für sich selbst als Wirtschaftsstandort oder Tourismusziel werben, räumt man beim Städtetag ein. „National stehen die Städte in Deutschland damit natürlich auch untereinander in einem gewissen Wettbewerb“, sagt Hauptgeschäftsführer Helmut Dedy der WirtschaftsWoche.

Franzke findet das alles etwas übertrieben. Und außerdem: seine Kollegen könnten doch auch mal was Neues machen. „Letztendlich sind wir doch alle Vertreter. Da gilt: Der Wurm muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler.“ Aber um viel zu fangen, schiebt er dann noch nach, müsse man eben dahin gehen, wo die Fische seien.

"Google" aus Brezelteig

Die Angler aus München haben da offenbar eine andere Philosophie. "Holladiria, holla di ra - there is no other place than bavaria", singt eine blonde Frau im Dirndl. Sie steht vor einer holzgetäfelten Wand in der Messe München an der künstliche Hirschgeweihe hängen, irgendwer hat aus Bretzelteig ein „Google“ geformt und daneben gehängt. Auf den Stühlen im Auditorium sitzen vielleicht 60 junge Unternehmer. Franz Glatz betritt die Bühne. Er ist Geschäftsführer des „Werk 1“, des Gründerzentrums der bayerischen Landeshauptstadt. Er soll hier auf der Start-up-Messe „Bits’n Pretzels“ die Briten für den Freistaat einnehmen. "I am Franz and I bought the first Lederhosen of my life for this event", sagt er.

Glatz ist in Bayern groß geworden. Er hat schon als Bub Lederhose getragen. Aber es kommt natürlich besser, wenn man sich etwas gemein macht mit den Neuen. Glatz sagt den Gründern, er arbeite für eine bessere Welt, bringe Ideen mit Investoren zusammen. „Wenn ihr jeden Tag in Lederhosen arbeiten wollt – kommt zu uns.“

Einen Tag später sitzen 5000 Startup-Unternehmer im Schottenhammel-Zelt auf dem Oktoberfest und stemmen noch vor zehn Uhr morgens Maßkrüge. Tatsächlich tragen die meisten Lederhosen und Dirndl. So mancher Neuling muss auf der Herrentoilette erst lange nesteln, um den Latz richtig zu öffnen. Gesprochen wird ein babylonischer Kanon aus bayrisch, deutsch und englisch. Die Stimmung ist ausgelassen. Nicht ausgeschlossen, dass sich viele Briten hier tatsächlich wohlfühlen.

Welche Branchen besonders betroffen sind
AutoindustrieDie Queen fährt Land Rover – unter anderem. Autos von Bentley und Rolls-Royce stehen auch in der königlichen Garage. Die britischen Autobauer werden es künftig wohl etwas schwerer haben, ihre Autos nach Europa und den Rest der Welt zu exportieren – je nach dem, was die Verhandlungen über eine künftige Zusammenarbeit ergeben. Auch deutsche Autobauer sind betroffen: Jedes fünfte in Deutschland produzierte Auto geht nach Angaben des Branchenverbandes VDA ins Vereinigte Königreich. Autos deutscher Konzernmarken haben danach auf der Insel einen Marktanteil von gut 50 Prozent. BMW verkaufte in Großbritannien im vergangenen Jahr 236.000 Autos – das waren mehr als 10 Prozent des weltweiten Absatzes. Bei Audi waren es 9, bei Mercedes 8, beim VW-Konzern insgesamt 6 Prozent. Für Stefan Bratzel wird der Brexit merkliche negative Auswirkungen auf die Automobilindustrie haben, die im Einzelnen noch gar nicht abschließend bewertet werden können. „Der Brexit wird so insgesamt zu einem schleichenden Exit der Automobilindustrie von der Insel führen“, sagt der Auto-Professor. „Wirkliche Gewinner gibt es keine.“ Quelle: REUTERS
FinanzbrancheBanken brauchen für Dienstleistungen innerhalb der EU rechtlich selbstständige Tochterbanken mit Sitz in einem EU-Staat. Derzeit können sie grenzüberschreitend frei agieren. Durch den Brexit werden Handelsbarrieren befürchtet. Quelle: REUTERS
FinTechsDie Nähe zum Finanzplatz London und die branchenfreundliche Gesetzgebung machten Großbritannien in den vergangenen Jahren zu einem bevorzugten Standort für Anbieter internetbasierender Bezahl- und Transaktionsdienste, im Branchenjargon „FinTech“ genannt. Das dürfte sich nun ändern. Der Brexit-Entscheid werde bei den rund 500 im Königreich ansässigen FinTechs „unvermeidlich“ zu einer Abwanderung von der Insel führen, erwartet Simon Black. Grund dafür sei, so der Chef des Zahlungsdienstleisters PPRO, da ihr „Status als von der EU und EWR anerkannte Finanzinstitutionen nun gefährdet ist“. Simon erwartet von sofort an eine Verlagerung des Geschäfts und die Schaffung neuer Arbeitsplätze außerhalb von Großbritannien. „FinTech-Gewinner des Brexits werden meines Erachtens Amsterdam, Dublin und Luxemburg sein.“ Als Folge entgingen Großbritannien, kalkuliert Black, „in den nächsten zehn Jahren rund 5 Milliarden Britische Pfund an Steuereinnahmen verloren“. Quelle: Reuters
WissenschaftAuch in der Forschungswelt herrscht beidseits des Kanals große Sorge über die Möglichkeiten zukünftiger Zusammenarbeit. Die EU verliere mit Großbritannien einen wertvollen Partner, ausgerechnet in einer Zeit, in der grenzüberschreitende wissenschaftliche Zusammenarbeit mehr denn je gebraucht werde, beklagt etwa Rolf Heuer, Präsident der Deutschen Physikalischen Gesellschaft. „Wissenschaft muss helfen, Grenzen zu überwinden.“ Venki Ramakrishnan, der Präsident der Royal Society, fordert, den freien Austausch von Ideen und Menschen auch nach einem Austritt unbedingt weiter zu ermöglichen. Andernfalls drohe der Wissenschaftswelt „ernsthafter Schaden“. Wie das aussehen kann, zeigt der Blick in die Schweiz, die zuletzt, nach einer Volksentscheidung zur drastischen Begrenzung von Zuwanderung, den Zugang zu den wichtigsten EU-Forschungsförderprogramme verloren hat. Quelle: dpa
DigitalwirtschaftDie Abkehr der Briten von der EU dürfte auch die Chancen der europäischen Internetunternehmen im weltweiten Wettbewerb verschlechtern. „Durch das Ausscheiden des wichtigen Mitgliedslands Großbritannien aus der EU werde der Versuch der EU-Kommission deutlich erschwert, einen großen einheitlichen digitalen Binnenmarkt zu schaffen, um den Unternehmen einen Wettbewerb auf Augenhöhe mit Ländern wie den USA oder China zu ermöglichen“, kommentiert Bernhard Rohleder, Hauptgeschäftsführer beim IT-Verband Bitkom, den Volksentscheid. Daneben werde auch der Handel zwischen den einzelnen Ländern direkt betroffen: 2015 exportierte Deutschland ITK-Geräte und Unterhaltungselektronik im Wert von 2,9 Milliarden Euro nach Großbritannien geliefert; acht Prozent der gesamten ITK-Ausfuhren aus Deutschland. „Damit ist das Land knapp hinter Frankreich das zweitwichtigste Ausfuhrland für die deutschen Unternehmen.“ Quelle: REUTERS
ChemieindustrieDie Unternehmen befürchten einen Rückgang grenzüberschreitender Investitionen und weniger Handel. Im vergangenen Jahr exportierte die Branche nach Angaben ihres Verbandes VCI Produkte im Wert von 12,9 Milliarden Euro nach Großbritannien, vor allem Spezialchemikalien und Pharmazeutika. Das entspricht 7,3 Prozent ihrer Exporte. Von der Insel bezogen die deutschen Firmen Waren für 5,6 Milliarden Euro, vor allem pharmazeutische Vorprodukte und Petrochemikalien. Quelle: REUTERS
ElektroindustrieNach einer Umfrage des Ifo-Instituts sehen sich besonders viele Firmen betroffen (52 Prozent). Das Vereinigte Königreich ist der viertwichtigste Abnehmer für Elektroprodukte „Made in Germany“ weltweit und der drittgrößte Investitionsstandort für die Unternehmen im Ausland. Dem Branchenverband ZVEI zufolge lieferten deutsche Hersteller im vergangenen Jahr Elektroprodukte im Wert von 9,9 Milliarden Euro nach Großbritannien. Dies entspreche einem Anteil von 5,7 Prozent an den deutschen Elektroausfuhren. Quelle: dpa

Es ist die vielleicht verquerste Methode der Gründerwerbung: Gleichzeitig die lauteste – und die leiseste. Denn während andere Kommunen mühsam versuchen, all ihre kulturellen und wirtschaftlichen Vorzüge in möglichst symbolträchtige Genstände zu verpacken und in der Ferne feilzubieten wie einst fliegende Händler bei Hofe, haben sie sich in München entschieden still zu halten. Kein Bürgermeister reist nach London. Keine Wirtschaftsministerin tritt auf Konferenzen auf. Stattdessen fliegt man ein paar ausgesuchte Gründer ein, die hoffentlich anschließend daheim und auf Twitter von den blau-weißen Gastfreuden erzählen. „Wir versuchen es mit dem Florett“, heißt es bei der Wirtschaftsförderung dazu.

Am Rand des Festzeltes steht Münchens Wirtschaftsbürgermeister Josef Schmid. Ein kerniger CSU-Bayer in ordentlich speckigen Lederhosen, der mit breitem Akzent spricht. „Die bayerische Lebensart, die hohe Lebensqualität hier, das steht doch für sich. Das ist schon was wert.“ In Berlin fänden junge Menschen doch höchstens Büroräume mit „Abrisscharme“. Aber die großen Konzerne seien doch hier, bei ihm. Und genau die brauche man als Gründer nach der ersten Phase, „jemanden der investiert, jemanden mit Kapital.“

München jedenfalls habe keine große Werbung nötig, keinen Popup-Store wie Berlin. „Mir ist überhaupt nicht bange. Wir haben nach dem Brexit eine große Chance. Die Startups schätzen unsere Zurückhaltung. Unser Leuchtturm ist das hier“, sagt Schmid und zeigt durchs Schottenhammel-Festzelt. Er wirkt zufrieden. Aber er hat ja heute auch Geburtstag. Da genehmigt er sich gleich noch eine Maß.

Wo bleibt eine gemeinsame Start-up-Strategie?

So verstricken sich die Städte in einem kleinkarierten Konkurrenzkampf statt eine gemeinsame Start-up Strategie für den Standort Deutschland zu entwickeln. Und das wird von vielen kritisch gesehen. Etwa von James W. Sore, Finanzchef der Investment-Plattform Syndicate-Room. „Deutsche Städte sollten ein Cluster bilden“, findet er. „München für Technologie, Berlin und Düsseldorf für E-Commerce. Frankfurt spezialisiert sich auf Fintechs. Nur so kann Deutschland wirklich zum europäischen Einfallstor werden für britische Firmen.“

Wahrscheinlicher ist indes das Gegenteil, nach dem Motto: jeder ist sich selbst der Nächste. Bayern etwa hat schon verkündet, junge Firmen in den kommenden Jahren mit 330 Millionen Euro zu fördern. Nordrhein-Westfalen hält mit läppischen 12,5 Millionen dagegen – allerdings gestreckt auf drei Jahre.

Es hat ein zermürbender Wettlauf eingesetzt um „Germanys next Mittelstand“, den am Ende der ohnehin schon reiche Süden gewinnen dürfte. Auch, weil es an einer einheitlichen Ansiedlungsstrategie aus dem Wirtschaftsministerium fehlt.

Welche deutschen Branchen der Brexit treffen könnte

In SoHo ist es dunkel geworden. Draußen auf der Bateman Street hat es angefangen zu regnen, als Wirtschaftsförderer Franzke zu Tisch bittet. 25 Gäste, die Hälfte aus London, die andere aus Berlin, hat er eingeladen um ihnen zum Abschluss des Tages die neue Küche der Hauptstadt zu zeigen.

Es gibt Grünkohl, Entenbrust und Austern. Fünf Gänge mit drei Weinen. Franzke sitzt am Kopfende des Tisches und zieht Bilanz: „Es war gut besucht, viel mehr als ich gedacht hätte. Der Brexit hat das hier richtig gepusht.“

In Deutschland, glaubt er, mache das Berlin jedenfalls so schnell keiner nach. Nächstes Mal will er mit seinem Popup-Zirkus deshalb wieder in die große weite Welt ziehen. Shanghai scheint ihm interessant. Und warum eigentlich nicht auch mal direkt ins Silicon Valley gehen? Die Sache mit dem Brexit jedenfalls ist ja optimal gelaufen.

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