WirtschaftsWoche: Herr Ziegler, Sie rufen dazu auf, die Welt zu ändern. Warum ist das nötig?
Jean Ziegler: Wir leben in einer neoliberalen, kannibalischen Welt. Die 500 größten multinationalen Konzerne haben im vergangenen Jahr 52,8 Prozent des Bruttoweltsozialproduktes kontrolliert. Gleichzeit wächst die Armut auf der Südhalbkugel. Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind. Fast eine Milliarde Menschen sind unterernährt – und das auf einem Planeten, der reich ist und der allen gehört.
Nicht so schnell. Sie können Großunternehmen nicht für verfehlte Entwicklungspolitik oder Staatsversagen in fast ganz Afrika verantwortlich machen. Die Gründe sind vielfältig.
Es geht um soziale Kontrolle. Die Welt funktioniert nach dem Prinzip der Profitmaximierung. Und diese Ideologie hat sich durch alle Bereiche ihren Weg gebahnt: durch die Wirtschaft, die Politik, die Interessenverbände. Die Pseudo-Erkenntnis, dass die Ökonomie Naturgesetzen folgt und für breiten Wohlstand sorgt, wird kaum noch infrage gestellt. Weder in Europa, noch in den USA oder in Afrika. Das führt zu Diebstahl am Gemeinwesen.
Zur Person
Bürger der Republik Genf, Soziologe, ist emeritierter Professor der Universität Genf. Er war bis 1999 Nationalrat (Abgeordneter) im Eidgenössischen Parlament. Von 2000 bis 2008 war er Sonderberichterstatter der UNO für das Recht auf Nahrung. Heute ist er Vizepräsident des beratenden Ausschusses des UNO-Menschenrechtsrats. Er ist Träger verschiedener Ehrendoktorate und internationaler Preise, wie z.B. des Internationalen Literaturpreises für Menschenrechte (2008).
Seine Bücher "Die Schweiz wäscht weißer"; "Die Schweiz, das Gold und die Toten"; "Wie kommt der Hunger in die Welt?"; ""Die neuen Herrscher der Welt und ihre globalen Widersacher"; "Das Imperium der Schande"; "Der Hass auf den Westen" und "Wir lassen sie verhungern", in mehrere Sprachen übersetzt, haben erbitterte Kontroversen ausgelöst und ihm internationales Ansehen verschafft.
"Ändere die Welt!" erschien im C.Bertelsmann-Verlag. ISBN 978-3-570-10256-5. Preis 19,99 Euro.
„Diebstahl am Gemeinwesen“? Das müssen Sie erklären.
Die Welt gehört allen. Pierre-Joseph Proudhon schrieb 1846: „Eigentum ist Diebstahl.“ Da ist was Wahres dran! Ich finde auch, dass Jean-Jacques Rousseau Recht hatte mit der Feststellung, dass das Elend damit begonnen habe, als der erste Mensch einen Zaun um ein Stück Land gemacht hat. Schuldig sind all die, die zugeschaut haben, ohne zu sagen: Das geht nicht.
In Deutschland sind wir ganz froh, dass wir in einem kapitalistischen Land leben – und nicht in einer besitzlosen Gesellschaft wie die DDR es war, in der Korruption, Mangel und Unfreiheit herrschte.
Nein, nein, Sie verstehen mich falsch. Das ist kein Aufruf, die DDR wieder aufleben zu lassen. Ganz sicher nicht. Das war ein schreckliches Regime, ein Unrechtsstaat. Mein Punkt ist: Jeder ist total verschieden, dem müssen wir gerecht werden. Aber so, dass ein jeder die Chance hat, nach seinem individuellen Glück zu streben.
So wie es in der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika von 1776 steht.
Die amerikanischen Revolutionäre haben die erste und – wie ich finde – schönste Menschenrechtserklärung verfasst. Gleich die Präambel fordert das Recht zum Streben nach Glückseligkeit – „the pursuit of Happiness” – ein. Zu jener Zeit war das Recht des Menschen, sein Glück zu finden, eine reine Utopie. Denn: Die materiellen Güter reichten bei Weitem nicht aus, um die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Heute allerdings wäre die Utopie realisierbar.
"Das Bewusstsein der Menschen ist entfremdet"
Sieben Milliarden Menschen auf der Welt könnten in Freiheit und (bescheidenem) Wohlstand leben, wenn wir uns anders aufstellen würden?
Karl Marx ist 1883 gestorben. Bis zum letzten Atemzug hat er geglaubt, dass der objektive Mangel an Gütern die Gesellschaft beherrschen werde. Menschen – so seine Prognose – würden stets um die wenigen, in absoluten Zahlen: ungenügenden, Güter streiten. Das war die Grundlage seiner Klassenkampftheorie. Aber: Seit dem Tod von Marx hat die Welt eine phänomenale und bewundernswerte Entwicklung genommen und im Zuge der industriellen Revolution die Produktionskräfte unglaublich gesteigert. Der objektive Mangel ist heute verschwunden. Die Welt-Landwirtschaft könnte problemlos zwölf Milliarden Menschen ernähren. Heute sterben die Menschen nicht mehr, weil die Nahrungsproduktion ungenügend ist, sondern weil ihnen der Zugang zu den Gütern verwehrt ist.
Ist die Entwicklungspolitik - die Hilfe zur Selbsthilfe - gescheitert?
Es ist der richtige Schritt, den Menschen vor Ort zu ermöglichen, für ihre eigenen Bedürfnisse sorgen zu können. Aber das passiert nicht. Ich würde mir wünschen, dass die nächste Generalversammlung des Internationalen Währungsfonds nur ein einziges Mal nicht für die Gläubigerbanken stimmt, sondern für die Menschen. Das hieße: für eine Entschuldung der 50 ärmsten Länder des Planeten. Dann könnten diese endlich Investitionen in der Landwirtschaft tätigen, leichte Maschinen anschaffen, Saatgut und Düngemittel. So könnten Tausende Menschenleben unmittelbar gerettet werden. Das müssten die Bürger in der Schweiz, in den USA und in Deutschland nur wollen.
Zweifeln Sie diesen Wunsch etwa an?
Ich spüre jedenfalls nicht, dass ein großer Druck auf die Elite ausgeübt wird, an den Missständen irgendetwas zu ändern.
Die wichtigsten Begriffe in der Kapitalismus-Debatte
Unter Geldmenge versteht man den gesamten Bestand an Geld, der in einer Volkswirtschaft zur Verfügung steht. Die Geldmenge kann durch Geldschöpfung erhöht und durch Geldvernichtung gesenkt werden. In der Volkswirtschaftslehre und von den Zentralbanken werden verschiedene Geldmengenkonzepte unterschieden, die mit einem M, gefolgt von einer Zahl bezeichnet werden. Für M1 und die folgenden Geldmengenaggregate M2 und M3 gilt stets, dass das Geldmengenaggregat mit einer höheren Zahl das mit einer niedrigeren einschließt. Eine niedrigere Zahl bedeutet mehr Nähe zur betrachteten Geldmenge und zu unmittelbaren realwirtschaftlichen Transaktionen. Die Geldbasis M0 stellt die Summe von Bargeldumlauf und Zentralbankgeldbestand der Kreditinstitute dar. Geldvolumen M-1 = Bargeldumlauf ohne Kassenbestände der Banken, aber einschließlich Sichteinlagen inländischer Nichtbanken. M-2 = Geldvolumen M-1 zuzüglich Termingelder inländischer Nichtbanken mit Laufzeiten unter vier Jahren. M-3 = Geldvolumen M-2 zuzüglich Spareinlagen inländischer Nichtbanken mit gesetzlicher Kündigungsfrist.
Die Goldparität ist der fixierte Wert einer Währungseinheit gegenüber dem Goldpreis. Sie entspricht der Menge von Gold in Gramm, die man für eine Währungseinheit erhält. Diese Menge ist im Rahmen eines Goldstandards staatlich oder durch internationale Vereinbarungen festgelegt. Über den Wert des Goldes ist damit der Wert der Währung bestimmt. Bei der Goldparität handelt sich um einen Sonderfall der Wechselkursparität. Ein mögliches Beispiel hierfür ist die Festlegung des Wertes des Dollars im Bretton-Woods-System. Die Goldparität des Dollars besteht jedoch seit Ende der 1960er nicht mehr, da sie durch Sonderziehungsrechte des Internationalen Währungsfonds ersetzt wurde.
Bezeichnung für eine Inflation, bei der die Preise langsam, nahezu unmerklich steigen. Meist wird von schleichender Inflation bei relativ geringen jährlichen Preissteigerungsraten von unter 5 Prozent gesprochen.
In verschiedenen Bedeutungen verwendeter Begriff. Wird häufig den Begriffen Geld oder Vermögen gleichgesetzt. Volkswirtschaftlich einer der drei Produktionsfaktoren neben Arbeit und Boden. Gesamtwert aller Güter, mit denen die Unternehmung arbeitet (Aktivseite der Bilanz). Buchhalterisch die Posten des Gesamtvermögens, die auf der Passivseite der Bilanz ausgewiesen werden. Auch: für Investitionen zur Verfügung stehendes Geld (Geldkapital).
Der Markt ist ein ökonomischer Ort des Tausches, an dem sich durch ein Zusammentreffen von Angebot und Nachfrage Preise bilden.
Beziffert, welchen Anteil des BIP der Staat und die Sozialversicherungen ausgeben.
Steuern sind Zwangsabgaben, die ein öffentlich-rechtliches Gemeinwesen (der Staat) von Personen oder Unternehmen verlangt, um seinen Finanzbedarf zu decken und seine Aufgaben erfüllen zu können. Steuern sind die Haupteinnahmequelle von Bund, Ländern und Gemeinden. Ein Anspruch auf eine konkrete Gegenleistung besteht nicht. Rechtliche Grundlage für alle Steuern in Deutschland ist die Abgabenordnung (AO). Über Steuern hat der Staat die Möglichkeit, das Verhalten seiner Bürger zu lenken, z.B. kann die Erhöhung der Tabaksteuer oder der Stromsteuer zu einem verminderten Konsum führen. Wenn die persönlichen Verhältnisse von Steuerpflichtigen berücksichtigt werden, handelt es sich um Personen-Steuern, ansonsten um Objekt-Steuern. Artikel 106 im Grundgesetz teilt die Steuern in vier Kategorien ein: Gemeinschaftssteuern (Verbundsteuern), Bundessteuern, Ländersteuern und Gemeindesteuern.
Wie erklären Sie sich die Gleichgültigkeit?
Das Bewusstsein der Menschen ist entfremdet. Das Solidaritätsbewusstsein, das Prinzip der Gegenseitigkeit, ich bin der andere, der andere bin ich, wie der Philosoph Ludwig Feuerbach so schön gesagt hat, zeichnet den Menschen aus. Eigentlich. Ich fürchte, dass diese Grundstruktur – die den Menschen von all den anderen Lebenswesen unterscheidet – durch die neoliberale Ideologie verschüttet ist. Das führt dazu, dass die Mehrheit der Menschen freiwillig gegen Solidarität für Schwächere stimmt. Und zum Teile – siehe die Schweiz – auch gegen ihre eigenen Interessen.
Die Schweiz hat in Volksabstimmungen eine Erhöhung des Mindestlohns und eine Begrenzung der Managergehälter abgelehnt sowie gegen eine Begrenzung der Zuwanderung gestimmt.
Darauf zielte meine Aussage ab, ja. Das Schweizer Volk stimmt frei, nicht manipuliert, geheim in der Urne, immer gegen ihre eigenen, materiellen Interessen ab. Das ist die totale Entfremdung.
"Wir stehen an der Abbruchkante der Zeit"
Oder die Erkenntnis, dass es den Schweizern so besser geht.
Das Lohngefälle wird immer größer, die Mieten und Lebenskosten steigen rasant, sodass es für die Mehrheit immer schwerer wird, ihren Lebensstandard zu erhalten und zu finanzieren. Ich erkenne die Vorteile nicht, die Sie andeuten. Nein: Die Ketten liegen in unserem Kopf. Wir stehen – wie Immanuel Kant schon einmal gesagt hat – an der Abbruchkante der Zeit. Wenn die Konzern-Weltdiktatur den Kampf gewinnt ums Bewusstsein, ist es vorbei mit der Aufklärung, mit dem demokratischen Staatsgedanken. Dann kommt was Perverses: Ein Dschungel, in dem der Stärkere gewinnt. Alle Errungenschaften der Demokratie wären verloren.
In wen setzen Sie die Hoffnung, dass dies nicht geschieht? Können die Gewerkschaften der „Konzern-Weltdiktatur“, wie Sie sagen, Paroli bieten?
Die Entfremdung hat auch in der sozialistischen Internationale Einzug gehalten. Auch bei den großen Gewerkschaften. Wenn die deutschen Maschinenbauer sagen, wir müssen aus Kostengründen Personal abbauen oder die Produktion verlagern, dann übernimmt die IG Metall nahezu diskussionslos die Sichtweise und verhandelt. Nein, das ist keine Lösung.
Vielleicht kann Ihnen die EU-Kommission zur Seite springen. Sie will eine Sozialcharta durchsetzen und so die Folgen der Krise abmildern.
Ich glaube weder daran, dass die Europäische Union hier helfen kann, noch der Nationalstaat. Der Souveränitätsverlust des Nationalstaates und die Entfremdung der Führungsschichten, die freiwillige Unterwerfung unter die Logik des Kapitals ist so weit vorangeschritten, dass ich nicht an eine Umkehr glaube. Die einzige Kraft, an die ich glaube, ist die neue globale Zivilgesellschaft.
Wer ist das?
Es hat sich eine Vielzahl von Widerstandsfronten etabliert. Wie vielfältig sie ist, zeigt sich einmal im Jahr beim Weltsozialforum. Sie kennen Attac, Greenpeace und die Frauenbewegung. Aber es gibt auch Bewegungen wie La Via Campesina. Sie kämpfen für die Rechte der Bauern, Kleinpächter und Tagelöhner von Honduras bis Tunesien – und gegen das Großkapital. Es ist ein Aufstand. Karl Marx hat einst gesagt: Der Revolutionär muss imstande sein, das Gras wachsen zu hören. Ich kann Ihnen sagen: Das Gras wächst.
.