Kein Vertrauen mehr Viele deutsche Firmen kehren Russland den Rücken

Russland, St. Petersburg: Ein VW Tiguan steht vor einem Autohaus in St. Petersburg. Quelle: dpa

Angesichts des Kriegs und der Sanktionen sind die in Russland tätigen deutschen Unternehmen zutiefst verunsichert, viele denken ans Aufgeben. Die russische Wirtschaft bricht stark ein, die Sanktionen zeigen Wirkung.

  • Teilen per:
  • Teilen per:

Ob große Konzerne oder kleine Mittelständler – noch gibt es viele deutsche Firmen in Russland. Doch der Angriffskrieg von Staatschef Wladimir Putin gegen die Ukraine zwingt viele zum Umdenken – und zum Rückzug. Nach den offiziellen Angaben der russischen Steuerbehörde waren Ende 2020 genau 3971 Firmen und Repräsentanzen mit deutschem Kapital in Russland registriert, doch diese Zahl dürfte sich nach Einschätzung des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft (OA) in den kommenden Monaten deutlich reduzieren. 

Die Entscheidung des Volkswagenkonzerns, die Produktion in seinem großen Werk in Russland einzustellen, hat nach Einschätzung von Branchenkennern Signalwirkung. Doch nicht nur das produzierende Gewerbe ist betroffen, auch Finanzdienstleister und Beratungsunternehmen wie Accenture ziehen sich aus Russland zurück.

Das geschieht nach Erkenntnissen des Ostausschusses nicht nur aus Reputationsgründen und politischer Überzeugung; oftmals bereiten auch der stark eingeschränkte Zahlungsverkehr und die infolge des Krieges und der Sanktionen auftretenden Lücken in der Logistik und in den Lieferketten enorme Probleme. 

Diese Unternehmen wenden sich von Russland ab
LindeAngesichts der Sanktionen gegen Russland stehen beim Gasekonzern Linde Anlagenbau-Projekte im Volumen von bis zu zwei Milliarden Dollar zur Disposition. Per Ende März habe Linde Verträge in dieser Höhe, etwa für Anlagen zur Gasverflüssigung, in Russland in den Büchern gehabt, teilte der amerikanisch-deutsche Konzern am 28. April bei Vorlage der Quartalszahlen mit. Von Sanktionen nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine seien im ersten Quartal bereits Projekte im Volumen von rund 350 Millionen Dollar betroffen gewesen oder seien voraussichtlich betroffen. Linde hatte das Neugeschäft in Russland gestoppt und ist dabei, die Aktivitäten dort nach und nach zurückzufahren: Bestimmte Kunden würden nicht mehr beliefert, zumindest von einem Teil der Anlagen wolle man sich trennen. Für das zweite Halbjahr hat Linde keine Umsätze aus Russland mehr in seinen Planungen berücksichtigt. Quelle: dpa
BASFDer Chemiekonzern BASF stoppt wegen des Krieges in der Ukraine seine Aktivitäten in Russland und Belarus. Eine Ausnahme sei das Geschäft zur Unterstützung der Nahrungsmittelproduktion, teilte der Ludwigshafener Konzern am 27. April mit. Seit März schließt BASF bereits keine neuen Geschäfte mehr in den Ländern ab. Wegen der jüngsten Entwicklungen in dem Krieg und den von der EU verhängten Sanktionen gegen Russland habe der Konzern nun entschieden, auch die bestehenden Aktivitäten in Russland und Belarus bis Anfang Juli einzustellen. Derzeit hat BASF 684 Beschäftigte in den beiden Ländern, diese sollen bis zum Jahresende weiter unterstützt werden. Die Geschäfte in Russland und Belarus machten im vergangenen Jahr rund ein Prozent des Konzernumsatzes aus, in der Ukraine waren es 0,2 Prozent.Mehr dazu lesen Sie hier: BASF stoppt Neugeschäft in Russland. Quelle: dpa
SAPDer Softwarekonzern gab am 19. April bekannt, den russischen Markt endgültig zu verlassen. Das Unternehmen kündigte zwei weitere Schritte „für den geordneten Ausstieg aus unserem Geschäft in Russland“ an. Hinsichtlich seiner Cloud-Dienste hatte SAP nicht von Sanktionen betroffene Unternehmen bereits vor die Wahl gestellt, Daten löschen zu lassen, diese in Eigenregie zu übernehmen oder sie in ein Rechenzentrum außerhalb von Russland zu überführen. SAP kündigte nun an, die Verträge russischer Firmen, die sich für eine Migration der Daten ins Ausland entschieden hätten, nach Ablauf der Abonnementlaufzeit nicht zu verlängern. Zudem beabsichtige SAP, den Support und die Wartung für Produkte, die auf lokalen Servern in Russland installiert sind (On-Premise), einzustellen. „Wir prüfen derzeit verschiedene Optionen, wie sich diese Entscheidung umsetzen lässt“, teilte das Unternehmen mit. Das Hauptaugenmerk liege darauf, den rechtlichen Verpflichtungen gegenüber nicht-sanktionierten Kunden weiter nachzukommen. Bereits Anfang März hatte SAP erklärt, sich den Sanktionen anzuschließen und das Neugeschäft in Russland wie auch Belarus einzustellen. Das beinhaltete allerdings nicht Dienstleistungen gegenüber Bestandskunden wie Wartungen oder Cloud-Dienste, die zunächst weiter angeboten wurden. Medienberichten zufolge soll diese Entscheidung intern von Mitarbeitern kritisiert worden sein. Mehr dazu lesen Sie hier. SAP macht nicht öffentlich, wie groß das Geschäft in Russland ist. Aus dem Integrierten Bericht 2019 – den letzten verfügbaren Daten – geht hervor, dass die russische Tochtergesellschaft unkonsolidiert im Jahr knapp 483 Millionen Euro umsetzte. Quelle: imago images/photothek
HenkelDer Konsumgüterkonzern gibt sein Russland-Geschäft nun doch auf. Das Unternehmen hinter Marken wie Persil, Schwarzkopf und Fa kündigte am 19. April an, es habe angesichts der aktuellen Entwicklung des Ukraine-Krieges beschlossen, seine Aktivitäten in dem Land einzustellen. „Der Umsetzungsprozess wird nun vorbereitet.“ Henkel werde mit seinen Teams in Russland an den Details arbeiten, um einen geordneten Ablauf zu gewährleisten, hieß es. Währenddessen würden die 2500 Beschäftigten von Henkel in Russland weiterbeschäftigt und -bezahlt. Die mit der Entscheidung verbundenen finanziellen Auswirkungen des geplanten Ausstiegs für Henkel könnten zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht näher quantifiziert werden. Henkel hatte mit dem Schritt lange gezögert. Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine Ende Februar hatte der Konzern zwar entschieden, alle geplanten Investitionen in Russland zu stoppen sowie Werbung und Sponsoring einzustellen. Die dortige Produktion sollte jedoch weiterlaufen. Dafür gab es auf der Hauptversammlung Anfang April Kritik von Aktionären, die etwa einen Reputationsschaden für Henkel fürchteten. Quelle: REUTERS
Dr. OetkerAuch der Nahrungsmittelhersteller Dr. Oetker zieht sich wegen des Ukraine-Krieges komplett aus Russland zurück. Das Familienunternehmen teilte am 8. April mit, dass es alle Anteile an seiner Russlandtochter an die bisherigen russischen Geschäftsführer verkaufe und damit sämtliche Aktivitäten in dem Land beende. Das Unternehmen hatte bereits direkt nach dem russischen Überfall auf die Ukraine alle Exporte nach Russland, alle Investitionen in die russische Schwestergesellschaft sowie sämtliche nationalen Marketingaktivitäten gestoppt. Das von Dr. Oetker in der Stadt Belgorod betriebene Nährmittelwerk produzierte seitdem nach Unternehmensangaben nur noch Grundnahrungsmittel wie Hefe und Backpulver für die russische Bevölkerung. Quelle: imago images
IntelDer Chip-Hersteller Intel stellt ab dem 6.April alle Geschäfte in Russland ein. Es seien Vorkehrungen getroffen worden, dass das weltweite Geschäft dadurch so gering wie möglich beeinträchtigt werde, teilt der Chip-Hersteller mit. Quelle: dpa
DecathlonDer französische Sportausrüster Decathlon stellt sein Geschäft in Russland ein. Das teilte das Unternehmen am 29. März mit. Die Lieferbedingungen unter strikter Beachtung der internationalen Sanktionen ließen eine Fortsetzung der Aktivitäten nicht mehr zu, teilt der Konzern mit. Decathlon ist im Besitz der französischen Unternehmerfamilie Mulliez, der unter anderem auch die Supermarktkette Auchan gehört. Zuletzt war der Druck auf die Familie gewachsen, ihre Geschäfte in Russland einzustellen. Auchan erklärte jedoch kürzlich, dort präsent zu bleiben. Andernfalls würden ein Verlust von Vermögenswerten und juristische Probleme für Auchan-Manager befürchtet. Auchan hat rund 30.000 Angestellte in Russland, Decathlon etwa 2500. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hatte heimische Konzerne vor Reputationsschäden gewarnt, wenn sie in Russland bleiben. Quelle: imago images

„Es geht aktuell weniger um die Sanktionen und deren Folgen, sondern um die Frage, ob wir mit Russland in Zukunft noch im nennenswerten Umfang wirtschaftliche Beziehungen haben werden oder nicht“, sagt Michael Harms, Geschäftsführer des Ostausschusses. „Je schneller die russische Regierung diesen Krieg stoppt, desto mehr ist von diesen Beziehungen noch zu retten.“

Sanktionen lassen russische Wirtschaft stark schrumpfen

Nach Einschätzung von Experten hatte die russische Regierung nicht mit einer so harten Sanktionierung durch den Westen gerechnet. Dass etwa auch die russische Zentralbank betroffen sein würde, habe man im Kreml nicht auf dem Zettel gehabt. Nach ersten Berechnungen der Bankanalysten von JP Morgan wird die russische Wirtschaft im zweiten Quartal um 35 Prozent und im Jahr 2022 insgesamt um sieben Prozent schrumpfen. Der Rückgang der Wirtschaftsleistung wäre damit mit dem der Krise von 1998 vergleichbar.

Das Vertrauen der Investoren ist in den vergangenen Jahren gesunken. Schon seit Einführung der EU-Sanktionen nach der Annexion der Krim 2014 ist die Firmenzahl stark rückläufig – 2011 waren noch 6.300 deutsche Unternehmen in Russland tätig. Dennoch ist es innerhalb der EU vor allem Deutschland, das von den traditionellen Handelsbeziehungen mit Russland profitiert hat. Mit einem Anteil von 2,3 Prozent am deutschen Außenhandel insgesamt zählte Russland zu den 15 wichtigsten Handelspartnern Deutschlands im vergangenen Jahr. Außerhalb der EU war Russland 2021 für Deutschland der viertwichtigste Importpartner sowie der fünftwichtigste Abnehmer deutscher Waren.



Investitionen von 25 Milliarden Euro gefährdet

All das ist nun gefährdet, ebenso wie die enormen Investitionen, die deutsche Unternehmen in Russland getätigt haben. Nach Angaben der Bundesbank belief sich das investierte Kapital auf einen Wert von rund 25 Milliarden Euro. Der Kreml lässt den Deutschen bei einem totalen Rückzug nicht viele Möglichkeiten. Entweder die Firma wird auf einen russischen Joint-Venture-Partner übertragen oder es wird eine Art Insolvenz durchgeführt. Schaden nehmen aber auch die rund 280.000 russischen Beschäftigten bei den deutschen Unternehmen. Die meisten bekämen noch eine kurze Gehaltsfortzahlung, „aber dann ist Schluss“, wie ein Insider sagt.

Der Gashahn bleibt auf

Zwischen Russland und Deutschland werden primär Rohstoffe, Fahrzeuge und Maschinen gehandelt. Deutschland importierte 2021 vor allem Erdöl und Erdgas im Wert von 19,4 Milliarden Euro – das war ein Zuwachs um 49,5 Prozent und machte 59 Prozent aller Einfuhren aus Russland aus. Dass die Energieimporte aus Russland innerhalb kürzester Zeit völlig eingestellt werden, wies Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Montag zurück. Deutschland und Europa seien darauf angewiesen. Die Umstellung werde angestrebt, brauche aber Zeit.

Das interessiert WiWo-Leser heute besonders

Geldanlage Das Russland-Risiko: Diese deutschen Aktien leiden besonders unter dem Ukraine-Krieg

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine belastet die Börsen. Welche deutschen Aktien besonders betroffen sind, zeigt unsere Analyse.

Krisenversicherung Warum Anleger spätestens jetzt Gold kaufen sollten

Der Krieg in der Ukraine und die Abkopplung Russlands von der Weltwirtschaft sind extreme Inflationsbeschleuniger. Mit Gold wollen Anleger sich davor schützen – und einer neuerlichen Euro-Krise entgehen.

Flüssigerdgas Diese LNG-Aktien bieten die besten Rendite-Chancen

Mit verflüssigtem Erdgas aus den USA und Katar will die Bundesregierung die Abhängigkeit von Gaslieferungen aus Russland mindern. Über Nacht wird das nicht klappen. Doch LNG-Aktien bieten nun gute Chancen.

 Was heute noch wichtig ist, lesen Sie hier

Neben Öl, Kohle und Gas lieferte Russland aber vor allem auch Metalle im Wert von 4,5 Milliarden Euro nach Deutschland, darunter Nickel, Aluminium und Kupfer. Dagegen exportierte die Bundesrepublik im vergangenen Jahr für 5,8 Milliarden Euro Maschinen nach Russland, gefolgt von Autos und Kraftwagenteilen (4,4 Milliarden Euro) sowie chemischen Erzeugnissen für drei Milliarden Euro.

Mehr zum Thema: Deutschland will sich mithilfe von Flüssiggas und Wasserstoff aus der Abhängigkeit von Putins Energielieferungen lösen. Doch die globale Konkurrenz ist groß.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%