Ob große Konzerne oder kleine Mittelständler – noch gibt es viele deutsche Firmen in Russland. Doch der Angriffskrieg von Staatschef Wladimir Putin gegen die Ukraine zwingt viele zum Umdenken – und zum Rückzug. Nach den offiziellen Angaben der russischen Steuerbehörde waren Ende 2020 genau 3971 Firmen und Repräsentanzen mit deutschem Kapital in Russland registriert, doch diese Zahl dürfte sich nach Einschätzung des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft (OA) in den kommenden Monaten deutlich reduzieren.
Die Entscheidung des Volkswagenkonzerns, die Produktion in seinem großen Werk in Russland einzustellen, hat nach Einschätzung von Branchenkennern Signalwirkung. Doch nicht nur das produzierende Gewerbe ist betroffen, auch Finanzdienstleister und Beratungsunternehmen wie Accenture ziehen sich aus Russland zurück.
Das geschieht nach Erkenntnissen des Ostausschusses nicht nur aus Reputationsgründen und politischer Überzeugung; oftmals bereiten auch der stark eingeschränkte Zahlungsverkehr und die infolge des Krieges und der Sanktionen auftretenden Lücken in der Logistik und in den Lieferketten enorme Probleme.
„Es geht aktuell weniger um die Sanktionen und deren Folgen, sondern um die Frage, ob wir mit Russland in Zukunft noch im nennenswerten Umfang wirtschaftliche Beziehungen haben werden oder nicht“, sagt Michael Harms, Geschäftsführer des Ostausschusses. „Je schneller die russische Regierung diesen Krieg stoppt, desto mehr ist von diesen Beziehungen noch zu retten.“
Sanktionen lassen russische Wirtschaft stark schrumpfen
Nach Einschätzung von Experten hatte die russische Regierung nicht mit einer so harten Sanktionierung durch den Westen gerechnet. Dass etwa auch die russische Zentralbank betroffen sein würde, habe man im Kreml nicht auf dem Zettel gehabt. Nach ersten Berechnungen der Bankanalysten von JP Morgan wird die russische Wirtschaft im zweiten Quartal um 35 Prozent und im Jahr 2022 insgesamt um sieben Prozent schrumpfen. Der Rückgang der Wirtschaftsleistung wäre damit mit dem der Krise von 1998 vergleichbar.
Das Vertrauen der Investoren ist in den vergangenen Jahren gesunken. Schon seit Einführung der EU-Sanktionen nach der Annexion der Krim 2014 ist die Firmenzahl stark rückläufig – 2011 waren noch 6.300 deutsche Unternehmen in Russland tätig. Dennoch ist es innerhalb der EU vor allem Deutschland, das von den traditionellen Handelsbeziehungen mit Russland profitiert hat. Mit einem Anteil von 2,3 Prozent am deutschen Außenhandel insgesamt zählte Russland zu den 15 wichtigsten Handelspartnern Deutschlands im vergangenen Jahr. Außerhalb der EU war Russland 2021 für Deutschland der viertwichtigste Importpartner sowie der fünftwichtigste Abnehmer deutscher Waren.
Investitionen von 25 Milliarden Euro gefährdet
All das ist nun gefährdet, ebenso wie die enormen Investitionen, die deutsche Unternehmen in Russland getätigt haben. Nach Angaben der Bundesbank belief sich das investierte Kapital auf einen Wert von rund 25 Milliarden Euro. Der Kreml lässt den Deutschen bei einem totalen Rückzug nicht viele Möglichkeiten. Entweder die Firma wird auf einen russischen Joint-Venture-Partner übertragen oder es wird eine Art Insolvenz durchgeführt. Schaden nehmen aber auch die rund 280.000 russischen Beschäftigten bei den deutschen Unternehmen. Die meisten bekämen noch eine kurze Gehaltsfortzahlung, „aber dann ist Schluss“, wie ein Insider sagt.
Der Gashahn bleibt auf
Zwischen Russland und Deutschland werden primär Rohstoffe, Fahrzeuge und Maschinen gehandelt. Deutschland importierte 2021 vor allem Erdöl und Erdgas im Wert von 19,4 Milliarden Euro – das war ein Zuwachs um 49,5 Prozent und machte 59 Prozent aller Einfuhren aus Russland aus. Dass die Energieimporte aus Russland innerhalb kürzester Zeit völlig eingestellt werden, wies Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Montag zurück. Deutschland und Europa seien darauf angewiesen. Die Umstellung werde angestrebt, brauche aber Zeit.
Neben Öl, Kohle und Gas lieferte Russland aber vor allem auch Metalle im Wert von 4,5 Milliarden Euro nach Deutschland, darunter Nickel, Aluminium und Kupfer. Dagegen exportierte die Bundesrepublik im vergangenen Jahr für 5,8 Milliarden Euro Maschinen nach Russland, gefolgt von Autos und Kraftwagenteilen (4,4 Milliarden Euro) sowie chemischen Erzeugnissen für drei Milliarden Euro.
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