Kernenergie Merkel delegiert Atompolitik an "Rat der Weisen"

Wie sieht die Atomzukunft Deutschlands aus? Die Bundesregierung kommt zu keiner Entscheidung und beruft eine Kommission. Die soll den gesellschaftliche Konsens herbeiführen.

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Bundeskanzlerin Angela Merkel Quelle: dapd

Die Bundesregierung betraut zwei Kommissionen mit der Neubewertung der Sicherheit deutscher Kernkraftwerke. Eines der Gremien, die dem Umweltministerium zugeordnete Reaktorsicherheits-Kommission, solle vor allem die technische Fragen klären, erläuterte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) am Dienstag nach einem Treffen mit den fünf Ministerpräsidenten, in deren Ländern Atomanlagen stehen. Die zweite, neu zu bildende Ethik-Kommission solle sich vor allem mit gesellschaftsrelevanten Fragen der Atomkraft befassen.

Merkel deutete an, es könne nach den drei Monaten des Moratoriums ein neues Atomgesetz geben. „Ich schließe nicht aus, dass die Überprüfungen Auswirkungen auf die Laufzeiten haben können“, sagte sie. Trotz bekannter Mängel bei den vor 1980 ans Netz gegangenen sieben Meilern hatte die Regierung im Herbst die Laufzeiten um durchschnittlich zwölf Jahre verlängert. Nach der Atomkatastrophe in Japan machte die Regierung eine Kehrtwende in ihrer Atompolitik. Seit vergangener Woche stehen acht der 17 deutschen Meiler vorerst still.

"In Spitzenzeiten besteht die Gefahr regionaler Blackouts."

Bei der Überprüfung gehe es auch um Fragen der generellen Auslegung der Atomkraftwerke, etwa gegen Cyberangriffe auf die Computersysteme der Anlagen, sagte Merkel. Man müsse einen Arbeitsplan für alle Kernkraftwerke mit neuen Prüfaufgaben erstellen.

„Es wird gezielt an neuen Fragen gearbeitet“, betonte Merkel. Bis zum 15. Juni will Merkel durch die Reaktorsicherheits-Kommission klären lassen, welche Konsequenzen aus Fukushima zu ziehen sind. Erst dann wird entschieden, welche Meiler weiter betrieben werden dürfen.

Vorsitzende der Ethik-Kommission sollen der frühere Bundesumweltminister Klaus Töpfer (CDU) und der Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), Matthias Kleiner, sein, sagte Merkel. Dem Rat gehören weitere Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und der Kirchen an.

Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) erläuterte, bei der Überprüfung werde „der Sicherheitsbegriff selbst infrage gestellt“ und eine völlig neue Sicherheitsauslegung geprüft. Er lehnte es auf Nachfrage aber ab, das schon von Rot-Grün ausgearbeitete neue verschärfte Kerntechnische Regelwerk mit möglicherweise teuren Nachrüstanforderungen bei der anstehenden AKW-Überprüfung anzuwenden.

Mit Blick auf die sehr kurze Zeit zur Klärung grundsätzlicher Fragen sagte Röttgen: „Ich glaube, dass drei Monate anspruchsvoll, aber machbar sind.“ Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP), betonte, beim notwendigen Netzausbau für mehr Ökostrom komme es auf drei Dinge an: Akzeptanz der Bevölkerung, Verfahrensbeschleunigung und Investitionen.

Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Kurt Beck (SPD) kritisierte die Kanzlerin erneut scharf dafür, dass sie nur mit Ministerpräsidenten der Union über die Zukunft deutscher Atommeiler spricht. Merkels Handeln werde derzeit offensichtlich nur von parteipolitischen Interessen geleitet, nicht von dem Bestreben nach einem gesamtgesellschaftlichen Konsens, kritisierte Beck laut Mitteilung am Dienstag in Mainz. „So, wie sie sich derzeit verhält, wird die Kanzlerin ihrer Verantwortung für die Zukunft Deutschlands nicht gerecht.“

Noch ein Treffen

Am 15. April will Merkel allerdings in einem weiteren Treffen mit allen 16 Ministerpräsidenten beraten, wie der stockende Netzausbau beschleunigt werden kann, um etwa Windstrom von der Küste in den Süden zu transportieren. Zudem soll es dann darum gehen, wie das Zeitalter der erneuerbaren Energien schneller erreicht werden kann.

Vor dem Kanzleramt demonstrierten rund 100 Atomkraftgegner mit Trillerpfeifen und skandierten mit Blick auf die acht bereits vorübergehend abgeschalteten Atomkraftwerke: "Abschalten: Jetzt und endgültig". Eine Woche nach dem Beschluss zur vorübergehenden Abschaltung der ältesten Anlagen soll es auch darum gehen, wie die Sicherheitsüberprüfungen in allen 17 deutschen AKW konkret aussehen sollen. Bis Juni will Merkel analysieren lassen, welche Konsequenzen aus der Atomkatastrophe in Fukushima zu ziehen sind. Erst dann wird entschieden, welche Meiler weiter betrieben werden dürfen.

Angesichts der ungewissen Atom-Zukunft will Merkel den Ausbau der erneuerbaren Energien beschleunigen. Unklar ist, ob das im Herbst vorgestellte Energiekonzept dazu neu justiert werden muss. 2010 hatte Energie aus Sonnenlicht, Wind oder Biomasse einen Anteil an der Stromproduktion von knapp 17 Prozent, die Kernenergie von rund 22 Prozent und Kohle von 43 Prozent. Ein besonderes Augenmerk will Merkel auf einen schnelleren Ausbau der Leitungsnetze legen, etwa um künftig den Windstrom von der Küste in den Süden zu transportieren.

Für die Atomkraftwerke sollen in der kommenden Woche neue Sicherheitsvorgaben veröffentlicht werden. "Die Reaktorsicherheits-Kommission wird Ende des Monats einen Anforderungskatalog vorlegen", sagte der Kommissionsvorsitzende Rudolf Wieland der "Financial Times Deutschland". Das 16-köpfige Expertengremium überprüft derzeit im Auftrag des Bundesumweltministeriums die Sicherheitsstandards angesichts der Atomkatastrophe in Japan - Umweltschützer kritisieren, dass viele Kommissionsmitglieder der Atomwirtschaft nahe stehen und daher in der Bewertung der AKW nicht unabhängig genug seien. "Ich glaube, dass es wegen Fukushima in Deutschland zu materiellen Änderungen bei den Sicherheitsanforderungen kommen wird", sagte Wieland. "Insbesondere wird es auch um Verbesserungen des Notfallschutzes gehen."

Stillegung wahrscheinlich

CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe geht davon aus, dass die meisten der abgeschalteten AKW stillgelegt werden. "Ich bin sicher, dass die Mehrheit der jetzt vom Netz gehenden alten Meiler dauerhaft vom Netz gehen", sagte er in einer SWR-Talkshow. Zudem rechnet Gröhe mit "einem beschleunigten Ausstieg aus der Atomenergie".

Die neue Vorsitzende der CSU-Landesgruppe, Gerda Hasselfeldt, warnte jedoch vor voreiligen Festlegungen. "Wir sollten diese drei Monate abwarten und dann erst aufgrund der Ergebnisse der Prüfung und nicht aus politischen Gründen entscheiden, wie es weiter geht", sagte sie der Zeitung "Die Welt".

Der Geschäftsführer der Deutschen Energie-Agentur (dena), Stephan Kohler, plädiert dafür, den unter Rot-Grün vereinbarten Atomkonsens umzusetzen, der einen Ausstieg bis 2022 vorsah. Das sei eine realistische Zielmarke, sagte er der "Passauer Neuen Presse". "Alles andere würde zu deutlich höheren Strompreisen führen. Das können wir uns als Industrieland nicht erlauben." Voraussetzung für den Atomausstieg sei ein umfangreicher Ausbau der Stromnetze.

Kohler sieht die Gefahr von Stromausfällen, falls neben den jetzt abgeschalteten acht Atomkraftwerken in Deutschland weitere Meiler vom Netz gehen. Wenn - wie geplant - im Mai fünf weitere AKW wegen interner Revisionen abgeschaltet würden, werde die Situation "sehr angespannt" sein.

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