




Die staatliche Unterstützung für arme Familien orientiert sich nach einer Studie zu wenig am Bedarf der Kinder. Sie werde ihren Bedürfnissen deshalb oft nicht gerecht, heißt es in der Daten-Auswertung des Forschungsinstituts der Bundesagentur für Arbeit im Auftrag der Bertelsmann Stiftung, über die „Der Spiegel“ berichtet.
Die Untersuchung zeigt eine deutliche Benachteiligung von Kindern aus einkommensschwachen Familien gegenüber denen aus Familien in gesicherten finanziellen Verhältnissen. Demnach machen drei Viertel (76 Prozent) der Kinder aus Hartz-IV-Familien noch nicht einmal eine Woche Urlaub im Jahr; bei Kindern in gesicherten Verhältnissen sind es nur 21 Prozent. 54 Prozent der armutsgefährdeten Kinder können demnach nicht mindestens einmal im Monat ins Kino, Theater oder Konzert gehen, 31 Prozent nicht mindestens einmal Freunde zum Essen einladen. 14 Prozent haben kein Internet. Zehn Prozent besitzen keine ausreichende Winterkleidung.
Armutsgefährdung in Deutschland
Wer in Deutschland allein mit weniger als 979 Euro netto im Monat auskommen muss, gilt nach der EU-Statistik als armutsgefährdet. Bei einer vierköpfigen Familie liegt die Grenze bei 2056 Euro im Monat. Nach dieser Rechnung sind 13 Millionen Menschen in der Bundesrepublik von Armut bedroht. Der Anteil an der Bevölkerung von rund 16 Prozent ist seit Jahren relativ stabil. Armutsforscher Hans-Ulrich Huster warnt jedoch: „Etwa die Hälfte davon hat keine Chance mehr, da raus zu kommen.“ Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband ergänzt: „Wir haben immer mehr Erwerbstätige, aber trotzdem schützt dies nicht mehr vor Armut.“
Die Statistiker sprechen von „Armutsgefährdung“ oder einem „relativen Armutsrisiko“. Nach der Definition der EU-Statistik ist von Armut bedroht, wer von weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Bevölkerung seines Landes lebt. „Armut“ ist nach Ansicht des Armutsforschers Christian Arndt „ein Zeichen dafür, dass etwas Wesentliches zum Wohlergehen fehlt“. Dies betreffe aber nicht alle, die über ein Einkommen unterhalb der „Armutsrisikoschwelle“ verfügten. „So ist dies sicher nicht der Fall für einen Studierenden mit geringem Einkommen, kann aber sehr wohl für ein schwerwiegendes Problem für eine alleinstehende Rentnerin sein.“
Mit einer Armutsgefährdungsquote von 16,1 Prozent schneidet Deutschland 2013 um 0,6 Prozentpunkte besser ab als der Anteil aller EU-Länder zusammen. Allerdings fehlen für den exakten Mittelwert noch einige Zahlen, etwa die von Irland und Kroatien. Besonders hoch ist der Anteil der von Armut bedrohten Menschen in Griechenland (23,1 Prozent), Rumänien (22,4 Prozent) und Bulgarien (21,0 Prozent). Am niedrigsten ist das Armutsrisiko in der Tschechischen Republik (mit einem Anteil von 8,6 Prozent), Island (9,3 Prozent), den Niederlanden (10,4 Prozent) und Norwegen (10,9 Prozent).
„Armut ist immer noch weiblich“, sagt die Präsidentin des Sozialverbandes VdK, Ulrike Mascher. Frauen aller Altersgruppen sind stärker von Armut bedroht als Männer. Besonders betroffen sind Alleinerziehende und Frauen im Rentenalter. Und: Fast 70 Prozent der Arbeitslosen sind armutsgefährdet. Nach Einschätzung von Armutsforscher Hans-Ulrich Huster haben auch Menschen mit Migrationshintergrund und alleinlebende junge Leute unter 30 Jahren ein erhöhtes Risiko.
Das Armutsrisiko hat nach Darstellung des Volkswirts und Armutsforschers Christian Arndt zwischen 1999 und 2005 stark zugenommen. Seitdem aber nicht mehr. In der seit 2008 erhobenen EU-Statistik stieg die Quote für Deutschland von 15,2 Prozent auf 16,1 Prozent. „Hier könnte man einerseits von einer Manifestation des Armutsrisikos sprechen. Die Botschaft ist aber die, dass das Armutsrisiko im Gegensatz zu einigen anderen Ländern nicht weiter zugenommen hat.“ Armutsforscher Hans-Ulrich Huster stellt fest: „Die Reichen werden reicher. Das Einkommen der Armen sinkt relativ gesehen zu den Einkommen der mittleren und oberen Einkommensbezieher.“
Der für 2015 geplante Mindestlohn ist nach Einschätzung des Sozialverbands VdK und des Paritätischen Wohlfahrtsverband ein richtiger Schritt. „8,50 Euro ist aber hart auf Kante genäht, das ist genau für einen Alleinlebenden die Armutsschwelle“, sagt der Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Ulrich Schneider. Armutsforscher Hans-Ulrich Huster betont: „Nicht der Facharbeitermangel ist das Problem, sondern dass wir uns zu wenig darum kümmern, dass die Jugendlichen, die da sind, eine entsprechende Ausbildung bekommen.“
Bereits im März hatte die Bertelsmann-Stiftung untersucht, wie sich Armut auf die Entwicklung von Kindern auswirkt. Das Ergebnis: Schuleingangsuntersuchungen erkennen bei Kindern, deren Familien von staatlicher Grundsicherung leben, mehr als doppelt so häufig Defizite in der Entwicklung wie bei Kindern, die in gesicherten Einkommensverhältnissen aufwachsen. Fünf- und Sechsjährigen aus benachteiligten Familien sprechen schlechter Deutsch, können schlechter zählen, leiden öfter unter Konzentrationsmängeln, sind häufiger übergewichtig und verfügen über geringere Koordinationsfähigkeiten.
Früher Kita-Besuch hilft nicht automatisch
Diese Auffälligkeiten gehen einher mit einer geringeren Teilhabe der armutsgefährdeten Kinder an sozialen und kulturellen Angeboten. So erlernen lediglich 12 Prozent dieser Kinder ein Instrument (Übrige: 29). Vor Vollendung des dritten Lebensjahres gehen 31 Prozent der armutsgefährdeten Kinder in eine Kita (Übrige: 47,6). Und nur 46 Prozent der armutsgefährdeten Kinder sind vor Schuleintritt in einem Sportverein (Übrige: 77). Gerade die Mitgliedschaft in einem Sportverein wirkt sich aber nicht nur auf die Entwicklung der Körperkoordination positiv aus, sondern auf alle Entwicklungsmerkmale, so die Studie.
Auch ein früher Kita-Besuch kann negative Folgen von Kinderarmut verringern, allerdings ist das kein Automatismus. Positive Effekte für die Entwicklung der Kinder treten nur dann ein, wenn die Kita-Gruppen sozial gemischt sind. Weil aber Armut innerhalb einer Stadt höchst unterschiedlich verteilt ist, können Kitas in sozialen Brennpunkten genau diese Heterogenität oftmals nicht gewährleisten. In Mülheim etwa liegen in einigen Stadtvierteln die Armutsquoten über 50 Prozent. Deshalb empfehlen die Studienautoren, die Ressourcen nicht nach dem "Gießkannenprinzip" zu verteilen: "Kitas in sozialen Brennpunkten brauchen mehr Geld, mehr Personal und andere Förderangebote", sagte Brigitte Mohn, Vorstand der Bertelsmann Stiftung. In Deutschland wachsen mehr als 17 Prozent der unter Dreijährigen in Familien auf, die von staatlicher Grundsicherung leben.