Bundesnetzagentur-Chef warnt vor Gas-Mangel „Es ist unverantwortlich, davon auszugehen, dass alles von alleine gut wird“

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„Das ist die 100-Punkte-Frage“

Es gibt weitere Unternehmen, die stark vom Gas-Import aus Russland abhängen. Muss die Bundesregierung, muss der deutsche Steuerzahler, jetzt nach und nach jedes dieser Unternehmen mit Milliardensummen rauspauken?
Es ist eine ganz schwierige Abwägung, ob und mit wie viel Steuergeld man Gasimporteure zu Beginn der Gaslieferkette rettet. Technisch gesehen ist das vergleichsweise einfach: Ich rette einzelne Unternehmen. Aber es bedeutet eben auch, dass Preissignale und damit Knappheitssignale weder an die Industrie noch an die privaten Haushalte weitergegeben werden, wo natürlich dann auch Rettungsmaßnahmen zur Diskussion stünden. Und damit ist auch die Alternative schon aufgezeigt. In dem Moment, in dem diese Preise weitergegeben werden können, würde das stärkste denkbare Signal zur Gaseinsparung wirken: heftigste Preissprünge nach oben. Die Folge wären Verwerfungen in Industrie und im privaten Bereich. Dann müsste man zielgenau da unterstützen und erforderlichenfalls retten, wo Unternehmen oder Menschen es nötig haben. Aber das ist eine schwierige Abwägung. Und die ist noch nicht abgeschlossen.

Es gibt das neue Speichergesetz, das Füllstände für Oktober und November vorschreibt, es gibt eine Ministerverordnung von Robert Habeck, die Ihnen erlaubt, bei jenen Speichern einzugreifen, die absehbar zu langsam befüllt werden. Und Geld haben Sie auch: Für 15 Milliarden Euro soll der Marktverantwortliche, die Trading Hub Europe, jetzt Gas einkaufen. Und dennoch heißt es, Sie müssten mit dem Befüllen schneller sein. Warum dauert das so lange?
Die 15 Milliarden Euro sind erst vergangene Woche freigegeben worden. Am Freitag vor einer Woche wurde das Geld angefordert. Am vergangenen Montag ist es eingegangen. Und auf der Grundlage kann die Trading Hub Europe jetzt weiter Gas kaufen. Schneller geht es nicht. Jetzt sind wir dabei, neben dem Speicher in Rehden auch den Speicher in Wolfersberg in Bayern von der Trading Hub Europe befüllen zu lassen. Der Speicher Rehden wird in hohem Tempo befüllt, da sind wir mittlerweile bei fast 20 Prozent. Anfang Juni waren wir bei unter einem Prozent. Und auch in Wolfersberg müsste das in den nächsten Tagen sichtbar werden. Der Speicher in Haidach in Österreich ist noch außen vor.

Die Preise sind gestiegen. Reichen die 15 Milliarden Euro denn überhaupt, um Füllstände von 90 oder 100 Prozent zu erreichen?
Das ist die 100-Punkte-Frage. Entscheidend ist, auf welchem Gaspreisniveau das alles kalkuliert ist. Als das kalkuliert wurde, lag der Gaspreis bei einem Niveau von 80 bis 85 Euro für die Megawattstunde. Bei der Kalkulation hatten wir die Speicher in Rehden und Wolfersberg im Blick. Und dann kam die Reduzierung der Mengen auf der Nord Stream 1 und die weitere Gaspreissteigerung.

Also – das Geld reicht nicht?
Je weiter der Gaspreis steigt, desto teurer wird es, die gesetzlichen Speicherziele für den Oktober und den November zu erreichen.

Wenn das Gas knapp werden sollte, in der „Notfallstufe“ des Notfallplans Gas, werden Sie, also die Bundesnetzagentur, zum „Bundeslastverteiler“. Sie müssen dann entscheiden, wem das Gas abgedreht wird. Eine unangenehme Rolle.
Deshalb bereiten wir uns intensiv vor. Dafür haben wir im Mai sehr detailliert Informationen bei großen Verbrauchern abgefragt. Anfang Oktober, zu Beginn der Heizperiode, soll die Sicherheitsplattform Gas in Betrieb gehen. Die soll es uns erlauben, Entscheidungen möglichst fein justiert zu treffen. Aber, und das werde ich auch nicht müde zu betonen: Ich will dieser Bundeslastverteiler nicht sein, weil mir völlig klar ist: Selbst mit der Plattform können es nachher keine guten Entscheidungen sein. Nur die am wenigsten schlechten. Deshalb haben wir die Industrie gefragt. Was hilft euch denn beim Sparen? Und die Antwort war: Wir brauchen einen Mechanismus, der es uns erlaubt, Gas über den Markt abzugeben.

Das soll jetzt eine Auktion richten, auch wieder organisiert von der Trading Hub Europe. Das soll laufen wie bei der Kohlestillegung: Die Unternehmen geben an, für welchen Preis sie verzichten würden. Die Firma, die am wenigsten Geld fordert, bekommt den Zuschlag.
Wir bauen im Prinzip eine permanente Auktion auf, so niedrigschwellig wie irgendwie möglich. Jene Energie, die Unternehmen abgeben, kann Trading Hub Europe dann verwenden, um den Engpass abzuwenden. Das ist ein Regelenergieprodukt. Ende des Sommers wird es dieses Produkt geben. Das wird nicht sofort fliegen. Aber wenn sich tatsächlich eine Gasmangellage anbahnt, dann glaube ich, kommt der Moment dieses Regelenergieproduktes, weil die Unternehmen dann hinauszögern, vielleicht sogar verhindern können, dass die Bundesnetzagentur entscheiden muss. So könnten sie die Situation so lange wie möglich selbst managen.

Die Trading Hub Europe spielt bei all dem die entscheidende Rolle. Warum übernimmt ein privates Unternehmen hoheitliche Aufgaben?
Das sind alles Aufgaben, die eng mit dem gesetzlichen Auftrag der Gasnetzbetreiber und dem Kerngeschäft von Trading Hub Europe zusammenhängen, nämlich der Sicherung einer stabilen Gasversorgung. Es ist deswegen naheliegend und entspricht der Aufgabenverteilung im Gasmarkt, dass Trading Hub Europe das macht – unter Aufsicht und im engen Austausch mit der Bundesnetzagentur.

Als die Energiekrise begann, haben wir mit Detlef Volz gesprochen, Geschäftsführer einer Ölmühle aus Neuss. Seine Prognose: düster. Jetzt haben wir nochmal gefragt: Wie geht’s? Noch überraschend gut, sagt er. Bis jetzt.
von Florian Güßgen

In Schwimmbädern hängen jetzt Schilder. Da steht drauf: Das Wasser in beheizten Freibädern wird drei Grad kälter, weil Minister Habeck die Alarmstufe ausgerufen hat. Haben Sie Angst, dass im Winter vor Werkstoren Schilder hängen, auf denen steht: Wir mussten leider schließen, weil Netzagentur-Chef Klaus Müller uns kein Gas mehr gibt?
Ja. Das kann passieren. Und es kann gut sein, dass wir dann auf dem Tulpenfeld in Bonn, am Sitz der Netzagentur, auch mehr als nur eine Demonstration erleben. Aber das ist dann auch verständlich. Denn wir wären es, die in einer Mangellage schwere Entscheidungen treffen müssen. Diejenigen, die dann noch Gas bekommen, werden das nicht kundtun. Aber diejenigen, bei denen wir womöglich reduzieren, kürzen oder streichen, die haben jedes Recht der Welt, darüber zornig, wütend, traurig, entsetzt zu sein.

Es sind eigenartige Zeiten, Herr Müller: Strom und Gas fließen noch, die Sonne scheint, die Leute genießen den Sommer – wir alle haben uns, so bitter das ist, mehr oder minder an diesen Krieg gewöhnt. Trotzdem müssen Sie sich in dieser scheinbaren Normalität für den Ausnahmezustand präparieren. Wie gehen Sie persönlich damit um?
Ich vertiefe mich in Arbeit. Und ich bemühe mich, hin und wieder den einen Schritt zurückzutreten und zu überlegen: Was ist jetzt wirklich wichtig? Und ich finde hoffentlich eine Sprache, die alle Menschen verstehen.

Wie muss man sich bei Ihnen den Morgen vorstellen – checken Sie erst einmal Speicherstände und Gaspreise?
Genau. Ich stehe auf und mein erster Blick geht aufs iPad, um die neuesten Zahlen anzusehen. Im Übrigen schaue ich auch auf den Wetterbericht. Daran hängt der Gasverbrauch. Je kälter es ist, desto mehr Gas brauchen wir, auch jetzt. So fatalistisch das klingen mag: Auch vom Wetter in diesem Sommer und Herbst wird der Erfolg der Speicherbefüllung abhängen.

Können Sie in diesen Zeiten überhaupt Ferien machen?
Ferien? Hörte ich da gerade das Wort Ferien?

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Ja.
In diesem Sommer ganz sicher nicht. Vielleicht kann ich im Herbst etwas reinquetschen. Mal wieder Paragliding in den Dolomiten wäre ein Traum. Aber ich wage da gerade keine Prognosen.

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