„Knallharte Arbeit“ So kämpfen deutsche Regionen gegen das Abgehängtwerden

Bremerhaven arm Quelle: AP

In jeder fünften deutschen Region sieht das IW Köln in einer neuen Studie „akuten Handlungsbedarf“. Sie kämpfen mit einer alternden und verschuldeten Bevölkerung oder der Infrastruktur. Was ist in den Regionen los?

  • Teilen per:
  • Teilen per:

Auf den ersten Blick wirkt der Spree-Neiße-Kreis im Süden Brandenburgs alles andere als bedroht: Mit dem Spreewald, der Peitzer Teichlandschaft, Talsperren und Naturschutzgebieten lockt der Landkreis Besucher und Einheimische ins Grüne. Etliche Bundesstraßen, die A15 und auf rund 1000 Kilometer gut ausgebaute Radwege verbinden die Städte des Kreises. Doch dieses Idyll täuscht über das große Problem in der Region hinweg – die Demografie. Das Durchschnittsalter steigt deutlich und die Einwohnerzahl sinkt beachtlich schnell. Das gilt für die gesamte Region „Lausitz-Spreewald“, in der auch der Spree-Neiße-Kreis mit seinen noch knapp 115.000 Einwohnern liegt.

Deshalb gilt die Region als bedroht. Es müsse dringend gehandelt werden, schlussfolgert die Studie „Die Zukunft der Regionen in Deutschland“, die das Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) an diesem Donnerstag herausgeben hat. IW-Direktor Michael Hüther und der Ökonom Jens Südekum stellten die Studie in Berlin vor. Die Region Lausitz-Spreewald ist nicht allein. Für insgesamt 19 der 96 deutschen Regionen sehen die Forscher „akuten Handlungsbedarf“.

Die liegen in völlig unterschiedlichen Teilen Deutschlands: Bedroht sind ländliche Regionen in Ostdeutschland, Bremerhaven, das Ruhrgebiet oder das Saarland. Wie die Forscher zu ihrer Diagnose kommen? Untersucht haben das IW und verschiedene Bildungseinrichtungen in den Regionen die wirtschaftliche Entwicklung (Arbeitslosenquote, BIP, Kaufkraft, Überschuldung der privaten Haushalte), die Demografie (Fertilitätsrate, Lebenserwartung, Durchschnittsalter, Einwohner) und die Infrastruktur (Breitband, Ärztedichte, Kommunale Schulden, Immobilienpreise). Bei all der Empirie könnten die Probleme mancher Regionen kaum unterschiedlicher sein, wie zwei Regionen und ihr Kampf dagegen zeigen.

In der Region Lausitz-Spreewald bereitet den Forschern speziell das Durchschnittsalter große Sorgen. Im Spree-Neiße-Kreis lag das im Jahr 2013 noch bei 48,7 Jahren und damit etwa vier Jahre über dem deutschen Durchschnitt zu dieser Zeit. Das Amt für Statistik Berlin Brandenburg prognostiziert allerdings einen Anstieg auf 54,7 Jahre im Jahr 2030. Und 2040 sollen die Einwohner im Spree-Neiße-Kreis durchschnittlich sogar 57,6 Jahre alt sein.

Mit dem höheren Durchschnittsalter geht eine schrumpfende Bevölkerung im Landkreis einher: 2040 sollen hier schätzungsweise nur noch 84.500 Menschen leben. Etwa 30.000 weniger als heute.

Harald Altekrüger kennt die Probleme in der Region. Seit 2010 ist der CDU-Politiker Landrat im Spree-Neiße-Kreis. Wie es zu dem hohen Durchschnittsalter kommt? Es habe „schlichtweg historische Gründe“, sagt der 63 Jahre alte Landrat. „Der Strukturwandel, in dem wir uns heute befinden, hat bereits zur Zeit der Wende vor dreißig Jahren eingesetzt.“ Damals seien wichtige Industrien komplett weggebrochen: „Viele Tagebaue wurden geschlossen und beinahe die gesamte Textilindustrie ist abgewandert – die Lausitz war einst Deutschlands Textilstandort schlechthin“, erinnert sich Altekrüger. Und mit den Unternehmen gingen die Arbeitsplätze. Keine gute Voraussetzung, um die junge Bevölkerung an den Landkreis zu binden.

Der Strukturwandel im Kreis ist in vollem Gange: Die Lausitz Energie Bergbau AG (LEAG) betreibt die beiden größten aktiven Braunkohle-Tagebaue Brandenburgs mitten im Landkreis von Altekrüger: Jänschwalde und Welzow-Süd. Mit mehr als 30 Millionen Tonnen Braunkohle fördert die LEAG in den beiden Tagebauen knapp 20 Prozent der gesamten deutschen Braunkohleförderung und sorgt so neben Energie vor allem für Arbeitsplätze. Noch. Denn durch den Kohleausstieg Deutschlands sollen die letzten Kohlekraftwerke spätestens 2038 abgeschaltet werden. Im Tagebaue Jänschwalde soll deshalb 2023 Schluss sein mit der Förderung der Braunkohle. Etwas anders sehen die Pläne im Tagebau Welzow-Süd aus. Hier wird die Kohle bereits seit 1959 aus der Erde geholt. 2017 plante die LEAG damit, den Tagebau noch bis 2033 zu betreiben.

„Es ist knallharte Arbeit“

Spreewald: Wenn die Idylle über das Problem mit der Demografie hinwegtäuscht. Quelle: imago images

Für vom Kohleausstieg und den damit einhergehenden Strukturwandel betroffene Länder wie Brandenburg sieht die Bunderegierung Unterstützung in Höhe von insgesamt 40 Milliarden Euro vor. Doch Landrat Altekrüger will den Wandel in seinem Kreis nicht nur durch die Ausgleichszahlungen erreichen: „In den vergangenen Jahren haben wir es geschafft, wieder einiges an Industrie aufzubauen“, sagt der Landrat. Am Standort „Schwarze Pumpe“ etwa. Im dortigen Industriegebiet im Süden des Spree-Neiße-Kreises hätte sich zum Beispiel die Papier- und Verpackungsindustrie niedergelassen. Und an gleicher Stelle baut der Braunkohleförderer LEAG zurzeit die „BigBattery Lausitz“. Einen riesigen Batteriespeicher, der dabei helfen soll, „das Stromnetz gegen Schwankungen abzusichern“, wie es bei der LEAG heißt.

Das klingt zukunftsorientiert, doch damit nicht nur die Energie- oder Papierwirtschaft die junge Bevölkerung von einem Leben im Spree-Neiße-Kreis überzeugen soll, setzt Landrat Harald Altekrüger auf „eine sehr ordentliche Familien- und Bildungspolitik“: Die Betreuungsquote von Kindern unter drei Jahren würde mit 62 Prozent deutlich über dem Bundesschnitt liegen. Für 25 Millionen Euro soll 2022 eine neue Gesamtschule samt gymnasialer Oberstufe im Kreis eröffnen. „Für unsere Verhältnisse ein durchaus hoher Betrag“, sagt Altekrüger. Außerdem sollen sich an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg in Zukunft neue Forschungseinrichtungen und Institute niederlassen.

Das sei zwar beschlossene Sache, werde jedoch natürlich nicht auf Knopfdruck funktionieren. „Es ist knallharte Arbeit“, sagt Landrat Altekrüger.

Die verschuldeten Bremerhavener

In Norddeutschland gibt es ähnlich harte Arbeit zu erledigen: Der Zustand der Demografie oder der Infrastruktur macht Bremerhaven zwar nicht zu einer bedrohten Region. Die Hafenstadt an der Nordseeküste befindet sich vielmehr in einer wirtschaftlichen Schieflage: Nirgendwo sonst in Deutschland ist die Verschuldungsquote der privaten Haushalte höher. In Bremerhaven liegt sie bei 21,2 Prozent. Mehr als ein Fünftel der Bremerhavener Bürger ist somit überschuldet.

Die Studie des IW Köln verdeutlicht das: Die Region Bremerhaven erhält von den Forschern als einzige für diesen Indikator den Kriterienwert 1. „Wie prekär die private Schuldensituation in Bremerhaven ist, verdeutlicht der Umstand, dass außerhalb Bremerhavens nirgends ein Kriterienwert von 0,5 für diesen Indikator vergeben wurde“, heißt es in der Studie.

Wie auch im Spree-Neiße-Kreis drängt sich die Frage auf: Woran liegt das? Zum einen daran, dass nicht nur die privaten Haushalte verschuldet sind, sondern auch der Stadtstaat Bremen, zu dem Bremerhaven gehört. Kein anderes der 16 Bundesländer hat pro Kopf oder in Abhängigkeit des BIP so viele Schulden wie Bremen. 22 Milliarden waren es 2017, seit 2007 sind sie um knapp als 54 Prozent gestiegen. Ebenfalls negativer Spitzenwert zusammen mit dem Saarland.

„Gerade Bremerhaven hat eine sehr hohe Pendlerquote von fast 50 Prozent. Diese Pendler zahlen ihre Einkommenssteuer allerdings nicht in ihrem Arbeitsort Bremerhaven, sondern in ihrem Wohnort“, erklärt Olaf Orb, der stellvertretende Leiter der Abteilung Standortpolitik bei der Handelskammer Bremen. Dadurch fließe Bremerhaven und auch dem Stadtstaat Bremen vergleichsweise wenig Geld zu, mit dem Schulden abgebaut werden könnten. „Im unmittelbaren niedersächsischen Umfeld von Bremerhaven herrscht ein Stück weit heile Welt“, sagt Orb: „Niedrige Arbeitslosenquote unter dem Bundesdurchschnitt, kleine Schulklassen, gesunde Infrastruktur und viel Platz für Einfamilienhäuser.“

Zu lange auf den Fisch gesetzt

Und eine arme Stadt wie Bremerhaven ist sicherlich nicht der Traumstandort für Unternehmen, die für hochwertige Arbeitsplätze sorgen würden. Und hier findet sich dann auch ein Grund für die private Verschuldung: Die Arbeitslosenquote in Bremerhaven lag im Jahr 2005 bei mehr als 25 Prozent. Eine Folge von wegbrechenden Industrien – fast wie im Spree-Neiße-Kreis. „Bremerhaven wies bis in die späten 70er Jahre eine homogene Wirtschaftsstruktur auf und lebte beinahe ausschließlich von der Fischindustrie, der Hafenwirtschaft und den Werften“, erklärt Olaf Orb. „Bis auf die Hafenwirtschaft haben diese Branchen große Krisen samt erheblichen Arbeitsplatzverlusten durchlebt.“

Doch seitdem hat sich in Bremerhaven etwas getan: Heute liegt die Arbeitslosenquote nur noch bei 12,1 Prozent, auf dem niedrigsten Stand seit mehr als zwanzig Jahren. Damit liegt sie zwar immer noch deutlich über der durchschnittlichen Quote in Deutschland – doch immerhin scheinen die Maßnahmen der Stadt, Politik und verschiedener Unternehmen gefruchtet zu haben.

So besitze die Stadt mittlerweile eine diversifizierte Wirtschaftsstruktur, sagt Stadtentwicklungsreferent Orb: Der Fokus ist vom Fisch stärker auf die Lebensmittelwirtschaft mit all ihren Facetten gerichtet worden.“ Hinzu kämen Energiewirtschaft und Tourismus. Rund um die Hochschule hätten sich „maritime Forschungseinrichtungen wie das Thünen-Institut oder das Alfred-Wegener-Institut angesiedelt, die stetig neue Jobs für Fachkräfte schaffen.“ Das Königsprojekt für eine wirtschaftsstrukturelle Industrie-Neuansiedlung in Bremerhaven fehle allerdings noch. Im vergangenen Jahr war es fast so weit. Doch Siemens Gamesa eröffnete eine riesige wie moderne Windturbinenfabrik im Juni 2018 für 200 Millionen Euro dann doch in Cuxhaven. Auch Bremerhaven hatte sich als Standort für die Fabrik ins Spiel gebracht.

Bremerhaven Quelle: imago images

Bei all den Erfolgen mit der Arbeitslosenquote: Die Verschuldung der privaten Haushalte bleibt schier unvergleichlich hoch. Deshalb soll auf die bisherigen Erfolge nun aufgebaut werden. Olaf Orb hat hierfür schon konkrete Vorstellungen: „Die Urbanität Bremerhavens müsste noch viel stärker herausgearbeitet und an die Menschen in der Ems-Weser-Region auch besser herangetragen werden. Denn mit rund 120.000 Einwohnern ist die Seestadt in der Region das einzige wirkliche Oberzentrum. Das muss genutzt werden.“

Außerdem könne sich die Stadt als möglicher Standort für Maschinen- und Anlagenbau sowie Technologieunternehmen der Green Economy profilieren. „Denn schwere Anlagen wie Windräder oder Kraftwerksturbinen aus dem Hinterland über das störanfällige Fernstraßennetz aufwändig an die Häfen zum Weiterversand zu liefern, erscheint mitunter wenig sinnvoll. Es bietet sich geradezu an, sie direkt vor Ort zu produzieren – und mit freien Gewerbeflächen eignet sich Bremerhaven dafür wunderbar“, erklärt Olaf Orb von der Handelskammer.

Auch wenn Bremerhaven und der Spree-Neiße-Kreis laut der IW-Studie bedroht sind, erfüllen sie den „akuten Handlungsbedarf“ und tun etwas. So sagt Olaf Orb: „Bremerhaven hat die Chance auf Wachstum. Für die Zukunft des Standorts bin ich durchaus optimistisch.“ Ob sein Optimismus berechtigt ist, wird sich zeigen. Spätestens dann, wenn das Institut der Deutschen Wirtschaft die Studie bald erneut durchführen würde.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%