Knauß kontert

Die 68er und der beschleunigte Kapitalismus

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68 und die Entfremdung von den kleinen Leuten

Es war die einzige, aber entscheidende Niederlage der 68er. Die Ablehnung durch die heimischen Malocher war eine Kränkung, die die neuen Linken bis heute nicht vergessen haben. Die Konsequenz: Den marxistisch-antikapitalistischen Kampf, der ohnehin wie eine Karikatur der Klassenkonflikte vergangener Zeiten wirkte, gaben die 68er in den Jahren danach fast vollständig auf – von den radikalisierten Terror-Phantasten der RAF abgesehen.

1968 gilt als „links“. Die Protagonisten sahen und sehen das so. Tatsächlich aber läuteten sie das Ende der Linken als eigenständige politische Kraft ein. Damals begann zunächst unmerklich, was sich heute in Wahlergebnissen immer deutlicher offenbart: die Entfremdung der neuen Linken von den kleinen Leuten, von der Unterschicht.

Die Ablehnung durch das imaginierte revolutionäre Subjekt Proletariat führte dazu, dass sich die neue Linke andere politische Projekte suchte. Sie fand sie in Minderheiten („Diskriminierung“ ist einer der wirkmächtigsten Begriffe des 68er Jargons), in den ausgebeuteten Völkern des globalen Südens und nicht zuletzt in der „Umwelt“. Die Übernahme der ökologischen Sorgen – bis in die späten 1970er Jahre und noch bei der Gründung der Grünen eine Domäne von Konservativen wie Herbert Gruhl – war einer der raffiniertesten machtpolitischen Schachzüge der 68er. Die neue Linke schlug eine Brücke zu dem, was vom deutschen Bildungsbürgertum noch übrig blieb. Hier wurde das heutige Juste-Milieu der (west)deutschen Gesellschaft begründet.   

Und was bleibt vom Antikapitalismus der 68er? Wenig außer Phrasen und radikalen Subkulturen. Im Gegenteil: Tatsächlich hat die Bewegung der 68er die Entwicklung hin zur systemischen Produktions- und Konsumgesellschaft befördert. Denn in den Jahren nach 1968 wurde eine neue Art des wohlsituierten Linksseins geboren, die mit den altkommunistischen, kollektivistischen Idealen aus der Klassenkampfzeit immer weniger zu tun hatte, sondern mit der neuen Art des Kapitalismus, der zeitgleich entstand, bestens zu vereinbaren ist. Beide fordern, fördern und feiern das hedonistische Individuum: Das unmittelbare Selbst, das sich von allen traditionellen Bindungen und überkommenen Zwängen frei macht.

Die bleibenden Werte der 68er waren autonomistisch – und damit höchst kompatibel mit den Angeboten des Konsumkapitalismus. Sie äußern sich in einem seit damals etablierten Jargon, dem kein Banker widersprechen wird: „Mensch“ (der „Bürger“ hingegen verschwindet aus dem Wortschatz), Selbstverwirklichung, Wahlfreiheit, Emanzipation, Entgrenzung, Lockerheit, Gleichberechtigung, Toleranz, Vielfalt, Authentizität, Selbstsein. Oder in die Sprache der Werber übersetzt: „Unterm Strich zähl ich“.

Die vorgeblich linke 68er-Bewegung hat damit ein Menschen- und Gesellschaftsbild befördert, das der Deregulierungstendenz der 90er und 2000er Jahre den Weg frei machte. In jüngster Zeit wirkte sich der antiregulative Turn der Post-68er-Linken vor allen in ihrer migrationspolitischen Haltung aus. Wie der – linke – Soziologe Wolfgang Streeck feststellt: „Traditionell befürwortete die Linke in der politischen Ökonomie Regulierung als Verteidigungsmaßnahme gegen die Unsicherheiten freier Märkte, während Deregulierung von der Rechten gewünscht war. Indem sie für die Deregulierung von Ländergrenzen mit offener Einwanderung kämpft, gibt die Linke ein zentrales Element ihrer historischen Pro-Regulierung-Agenda auf, zu der nicht zuletzt die Beschränkung des Arbeitsangebots gehörte, um Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt zu begrenzen.

Mit noch mehr zeitlichem Abstand und nach dem längst überfälligen Fall des Deutungsmonopols der Veteranen wird klar werden: „68“ war kein revolutionäres Ereignis, das eine alte Ordnung beseitigte, sondern ein Unternehmen zur Beschleunigung der „Flucht nach vorne“ der Marktgesellschaft. Damals hat eine von Skepsis weitgehend freie Avantgarde letzte Hindernisse auf diesem Weg angesägt, ohne zu bedenken, dass sie möglicherweise notwendige Stützen waren.

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