Knauß kontert

Der Kirchentag ignoriert die Religion

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Besinnung auf das Kerngeschäft

Nein, auch in den Tiefen des Kirchentagsprogrammes ist von Jesus nicht viel zu lesen. Wer Gott sucht und von religiösen Fragen umgetrieben wird, findet hier kaum ein Angebot. Der Tod zum Beispiel, dessen Schrecken vermutlich am Anfang jeder Religion steht, und dessen Überwindung durch Jesus Christus der Kern der christlichen Heilsbotschaft ist, kommt im gesamten Programm auf über 570 Seiten nur dreimal vor. Nur zwei Veranstaltungen von mehr als tausend dieses Kirchentages befassen sich mit „Auferstehung“. Bei einem davon geht es sinnigerweise um die Fernseh-Serie „Game of Thrones“.

Auch frühere Kirchentage gaben sich schon bereitwillig als Forum zu einem eitlen Schaulaufen der Prominenten und Mächtigen her. Längst ist „Kirchentag“ auch zu einem Synonym für betuliche Political Correctness geworden.  In diesem Jahr ist man auf diesem Weg noch ein gutes Stück vorangekommen. Das evangelische Christentum, das sich in Berlin und Wittenberg präsentiert, entfernt sich immer mehr vom religiösen Selbstzweck. Das Seelenheil, die Suche nach Gott, die letzten Fragen nach Leben und Tod, all das hat offenbar keine vernehmbare Relevanz mehr für die Christen, die da zusammenkommen. Die christliche „frohe Botschaft“ dient allenfalls noch als Hintergrundrauschen für allerlei meist kitschiges Kulturgedöns und vor allem als Untermalung einer theatralisch inszenierten Allerweltsmoral.

Bezeichnend für diese völlige Verweltlichung des organisierten Christentums ist, was die Kirchentagspräsidentin Christina aus der Au in ihrem Grußwort zum Reformationsjubiläum zu sagen hat: „Der reformatorische Aufbruch vor 500 Jahren war ein Ausbruch aus alten Gewohnheiten. Reformation ist Veränderung. Wie brechen wir heute auf, mutig, kreativ und mit Kraft, um Herausforderungen von Klimakrise, Wirtschaftskrise, Finanzkrise, Friedenskrise zu begegnen?“

So wird Martin Luther, dieser leidenschaftliche Gott-Sucher, von den Vertretern der Konfession, die er selbst begründete, zu einem schlichten Reform-Politiker banalisiert. Egal, wie man zu ihm steht: Das hat der große Mann wahrlich nicht verdient.

Dieser Kirchentag zeigt vor allem eines: Wenn das evangelische Christentum (und das katholische nicht weniger) eines nötig hat, dann Besinnung aufs Kerngeschäft. Auf die Bibel, auf Seelsorge, auf Gott.

Um auf Jesus und die Fragen vom Anfang zurück zu kommen: Eine Vorstellung davon, wie Jesus auf das Theater der moralisierenden Geschäftigkeit in Berlin vielleicht reagiert hätte, findet man in der Geschichte der „Tempelaustreibung“, die in allen vier Evangelien erzählt wird. Es ist übrigens das einzige Mal, dass Jesus Gewalt anwendet. Er war so wütend über die Viehhändler und Geldwechsler, die das Paschafest für ihre Geschäfte nutzten, dass er sie mit einer selbstgemachten Peitsche aus dem Tempel trieb.

Ist die Indienstnahme des Religiösen für politische und moralisierende Zwecke weniger verwerflich als die für ökonomische?

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