Knauß kontert

Das Wohlstandsversprechen zieht nicht mehr

Ferdinand Knauß Quelle: Frank Beer für WirtschaftsWoche
Ferdinand Knauß Reporter, Redakteur Politik WirtschaftsWoche Online Zur Kolumnen-Übersicht: Anders gesagt

Die Menschen leben im Wohlstand - und sind doch pessimistisch. Der politischen Klasse steht ein grundlegender Prioritätenwechsel bevor.

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Bundeskanzlerin und Wohlstandsversprecherin Angela Merkel Quelle: Marcel Stahn

Vor wenigen Tagen meldete eine der großen, überregionalen Tageszeitungen, „nie zuvor“ sei „es der Mehrheit der Deutschen so gut gegangen“. In anderen Medien fanden sich fast identische Überschriften. Die Bundesregierung, deren Armuts- und Reichtumsbericht der Anlass des Artikels war, dürfte sich gefreut haben. Denn das ist wohl die Botschaft, die die Regierenden am liebsten verkündet sehen wollen. 

Statistiker und Ökonomen liefern immer wieder neue Nahrung für solche Erfolgsmeldungen: allen Nachrichten aus Syrien zum Trotz gebe es im Großen und Ganzen weniger Kriegstote auf der Welt, die Zahl der absolut Armen nimmt ab, die Wahrscheinlichkeit, bei einem Terroranschlag zu sterben ist in westlichen Ländern extrem gering. Kurz: Es geht langsam aber sicher aufwärts.

Wie viele Deutsche Trumps Vorschläge auch bei uns gerne verwirklicht sähen

Bekanntlich kommt das bei den Bürgern aber nicht so richtig an. Warum nur sind so viele Menschen so unzufrieden trotz derart befriedigender Fakten, fragt man sich in Politik und Medien. Und behilft sich vorerst mit dem Schlagwort „postfaktisch“. Es unterstellt, die Unzufriedenen fühlten das Falsche, verleitet von fehlender Bildung, irrationalen Ängsten und übler Populistenhetze. Diese vordergründige Rattenfänger-Erklärung führt dann zum direkten Kampf gegen Hetzer und Populisten. Als ob diese die Ursache des Verdrusses wären – und nicht eine Folge. 

Das Unbehagen geht aber weit über die Anhängerschaft der neuen „populistischen“ Bewegungen hinaus. Einer Umfrage zufolge bezweifeln zwei Drittel der Deutschen, dass die von amtlichen Stellen veröffentlichten Statistiken zur Zuwanderung, zur Einkommens- und Vermögensverteilung und zur Arbeitslosigkeit „die Wirklichkeit einigermaßen korrekt widerspiegeln“. Diesem Unglauben geben Meldungen wie diese ganz handfeste Nahrung: Das Polizeipräsidium in Oberhausen hat der Öffentlichkeit, wie das nordrhein-westfälische Innenministerium einräumen musste, nur rund die Hälfte der tatsächlichen Einbrüche bekannt gegeben.

Mindestens ebenso erstaunlich wie der Vertrauensverlust in die amtlichen Statistiken ist ein scheinbarer Widerspruch in der letzten Auswertung des Eurobarometers vom Sommer 2016. Die Umfrage offenbart in ganz Europa einen großen politischen Pessimismus. Auch im wirtschaftsstarken Deutschland. Die Deutschen und die übrigen Europäer nehmen durchaus zur Kenntnis, dass es ihnen persönlich sehr gut geht. 89 Prozent der Deutschen sind mit ihrem persönlichen Leben zufrieden. 82 Prozent mit ihrer finanziellen Lage, 68 Prozent finden sogar ihren Job in Ordnung. Aber das verleitet sie eben nicht zu politischer Zuversicht und zum Vertrauen in die politischen Eliten.

Die Wahrnehmung einer großen Krise ist unübersehbar. Immer mehr Menschen in Deutschland und anderen westlichen Ländern sind von einer Ahnung beunruhigt, dass die guten Zeiten, von denen ihre leidgeprüften Großeltern nach dem Zweiten Weltkrieg träumten, und die ihre Eltern und sie selbst immer noch genießen, unsicheren, vielleicht sogar gefährlichen Zeiten weichen. Im vergangenen Jahr gehörte ein Interview mit Kurt Biedenkopf zu den meistgelesenen Texten dieser Website, das dieses Zitat zum Titel hat: „Der Westen ist nicht mehr weit vom Chaos entfernt“.

Es geht um Macht

Der CDU-Vordenker Kurt Biedenkopf sieht den Westen in einer Entgrenzungskrise. Ein Gespräch über die Knechtschaft des Wirtschaftswachstums, die Vernunft des Gottesglaubens und allzu empathische Politik.
von Ferdinand Knauß

Könnte es sein, dass Wohlstand und dessen Wachstum im 60. Jahr nach Erscheinen von Ludwig Erhards Klassiker „Wohlstand für Alle“ ganz einfach nicht mehr die entscheidende politische Kategorie ist? Könnte es sein, dass der politische Betrieb das nur noch nicht richtig realisiert? Hat man sich in den Jahrzehnten nach dem mörderischsten und zerstörerischsten Krieg der Weltgeschichte so sehr auf die Schaffung von Wohlstand fokussiert, bis man nicht mehr in der Lage war, zu erkennen, dass das Ziel erreicht ist? Der kluge Erhard selbst übrigens hat dies nicht getan. Sein Widerwille gegen eine forcierte, schuldenfinanzierte Wachstumspolitik war der Grund für seinen Sturz 1966.

Wie die meisten großen (Wirtschafts-)Denker, die noch in der ersten, kriegerischen Hälfte des 20. Jahrhunderts aufwuchsen, war für Erhard die Schaffung von Wohlstand durch Wirtschaftswachstum nie ein Selbstzweck, sondern dazu da, „die Grundlage für jedes höhere Streben und die Erfüllung geistig-seelischer Anliegen zu gewinnen. Erst wenn die materielle Basis der Menschen geordnet ist, werden diese selbst frei und reif für ein höheres Tun.“  

So etwas würde man von heutigen Spitzenpolitikern wohl kaum lesen. So sehr haben sich die Politikergenerationen nach 1945 daran gewöhnt, gute Politik mit wachsenden BIP-Zahlen gleichzusetzen, dass es Ihnen sichtlich schwerfällt, auch nur in Erwägung zu ziehen, dass die Deutschen der Gegenwart davon gar nicht mehr sonderlich beeindruckt sind. Zumal die große Mehrheit von Ihnen als Lohnempfänger ohnehin nur wenig vom Wachstum profitiert.

Grundsätzliche Fragen werden im parteipolitischen Betrieb kaum diskutiert. Wirtschaftswachstum zum Beispiel ist, wie eine Studie zeigt, für Bundestagsabgeordnete ein Dogma.
von Ferdinand Knauß

Der Wunsch nach materiellem Wohlstand im Sinne Ludwig Erhards – „die Menschen aus materieller Not und Enge zu befreien“ – ist eben längst nicht mehr die Antriebskraft der Wachstumswirtschaft. In den Volkswirtschaften der frühindustrialisierten Länder geht es bekanntlich nicht mehr darum, vorhandene Bedürfnisse von Konsumenten zu stillen. Knappheit ist nur noch in den verstaubten Modellen und Theorien der Ökonomen ein Problem. Im Gegenteil: Es geht darum, immer neue Bedürfnisse der mit Gütern vollgestopften Konsumenten zu erzeugen.

Die treibende Kraft in der heutigen Wachstumswirtschaft sind die Produzenten. Und deren Motiv ist nicht Wohlstand. Denn ein materiell extrem gut ausgestattetes Leben ist für die Entscheider längst Wirklichkeit. Im SUV kann man nur fahren, auf der Rolex kann man nur die Uhrzeit ablesen und im Marmorbad kann man sich auch nur waschen.

Was die Macher antreibt, ist der Wunsch nach Erfolg, nach Renommee, nach Status und nach Macht natürlich. Wirtschaft ist das bei weitem wichtigste, fast das einzige Spielfeld für den Willen zur Macht geworden. Das ist übrigens vielleicht der wichtigste Grund dafür, dass unsere postheroischen durch und durch ökonomisierten Gesellschaften so friedlich sind: Da es keinen anderen Ruhm mehr als Geldgewinn und keine andere Ehre als ökonomischen Erfolg gibt, konzentrieren sich Ehrgeiz, Aggression und Machthunger auf die Wirtschaft.

„Wohlstand für Alle“ ist in der deutschen Gesellschaft seit Jahrzehnten verwirklicht. Weiteres Wirtschaftswachstum schafft im Gegensatz zu Ludwig Erhards Zeiten heute kaum mehr Wohlstand, sondern erhöht den Reichtum und die Macht der ohnehin schon Reichen und Mächtigen. Auch das wollen amtliche Statistiken zwar gerne widerlegen, aber die Bürger spüren die Spreizung zwischen den Durchschnittlichen und dem wachsenden Reichtum der Reichen doch allzu deutlich in ihrer Lebenswirklichkeit.

Wer Wohlstand genießt, und ahnt, dass der nicht mehr sonderlich zu steigern ist, fürchtet um so mehr seinen Verlust. Die Leute wollen darum von ihrer demokratischen Obrigkeit nicht hören, wie toll es ihnen geht, sondern wie diese verhindern, dass es ihnen bald nicht mehr so toll geht. Anders formuliert: Statt Wohlstandssteigerung wie in der Nachkriegszeit wird das Bedürfnis nach Schutz vor immer offensichtlicheren Gefahren zur (wahl)entscheidenden politischen Kategorie. Das ist die erste und ursprünglichste Aufgabe des Staates. Darauf sind die in ruhigen Zeiten konditionierten Spitzenpolitiker der Gegenwart allerdings nicht spezialisiert. Dementsprechend wenig überzeugend wirkt das Angebot der Regierenden.

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