Knauß kontert

Der Kardinal, der keine Grenze kennt

Ferdinand Knauß Quelle: Frank Beer für WirtschaftsWoche
Ferdinand Knauß Reporter, Redakteur Politik WirtschaftsWoche Online Zur Kolumnen-Übersicht: Anders gesagt

Kardinal Reinhard Marx hat nicht nur über das "Kapital" eine Meinung, sondern weiß auch in allen anderen Politikbereichen, was gut ist. Und zwar ohne Obergrenze.

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Kardinal Marx auf der Bundespressekonferenz am 10.10.2017. Quelle: imago images

Ein Kirchenfürst hat leicht reden. Das Reich, für das er eigentlich zuständig ist, ist schließlich nicht von dieser Welt – zumindest nicht mehr seit der Auflösung der weltlichen Herrschaft der deutschen Bischöfe durch den Reichsdeputationshauptschluss von 1803.

Wenn Deutschlands oberster katholischer Kirchenfürst der Gegenwart, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz Kardinal Reinhard Marx vor die Presse tritt, könnte man dennoch meinen, er sei Spitzenpolitiker in höchster Verantwortung. Bei seinem Auftritt in der Bundespressekonferenz aus Anlass des traditionellen Sankt-Michaels-Empfangs der katholischen Kirche in Berlin war mit keinem einzigen Wort von Gott und anderen religiösen Dingen, die früher einmal in der Kirche wichtig genommen wurden, die Rede. Nur der Collar um den Hals erinnerte da noch an seinen geistlichen Stand.

Laut Vorankündigung sollt er „zu aktuellen Fragen für die katholischen Kirche“ sprechen. Aber Marx, der nicht nur dem Päpstlichen Wirtschaftsratssekretariat und der Ethikkommission für sichere Energieversorgung angehört, sondern auch schon ein Buch mit dem lustigen Titel „Das Kapital“ veröffentlicht hat, thematisierte so gut wie alles, außer kirchlichen, religiösen oder theologischen Fragen.

Asylanträge nach Bundesländern 2017

So sieht er eine „Herausforderung, viel umfangreicher und umfassender über Migration und Integration zu sprechen, über Ursachenbekämpfung, über Entwicklungspolitik und Außenpolitik, über Wirtschaftspolitik." Er kündigte einen Kongress „Rethinking Europe“ an, an dem auch der Papst teilnehmen werde, und lobte Emmanuel Macrons und Jean-Claude Junckers Europa-Reden.

Vor allem aber las er den beiden sich christlich nennenden Regierungsparteien die Leviten, die sich kurz zuvor geeinigt hatten, „erreichen“ zu „wollen“, dass „die Gesamtzahl der Aufnahmen aus humanitären Gründen … die Zahl von 200.000 Menschen im Jahr nicht übersteigt.“ 

Das Asylrecht kenne keine Obergrenze, dozierte Marx in seiner Rede in Anwesenheit des Bundespräsidenten und zahlreicher Politprominenz. Bei einem Einwanderungsgesetz dürfe es keinesfalls darum gehen, „dass man die Schlauesten nach Deutschland hole und die Armen alleine lasse“. Ist das also ernsthaft die wirtschafts- und migrationspolitische Vorstellung der katholischen Kirche in Deutschland? Wer nicht nach Deutschland kommen kann, muss sich „allein“ gelassen vorkommen? Deutschlands oberster Kirchenfürst glaubt offenbar, dass das irdische Heil (von einem anderen war zumindest nicht die Rede) nur hierzulande zu erreichen sei.

Marx hätte damit auf einem Bundesparteitag der Grünen sicher nicht wenig Beifall gefunden. Vermutlich besonders beim nicht gerade für seine Katholizität bekannten Ex-Marxisten Jürgen Trittin. Der hatte am Tag zuvor schon den Unionsparteien die „Verleugnung urchristlicher Werte“ vorgeworfen.

Größenwahn (lat. Superbia, eine der sieben Todsünden) bleibt aber Größenwahn, auch wenn es um gute Werke geht, die man von anderen einfordert. Ein katholischer Oberhirte ist dafür offensichtlich ebenso anfällig, wie der evangelische Kirchentagsmitorganisator, Attac-Aktivist und Grünen-Politiker Sven Giegold, der nach der Einigung der Union twitterte: „Diese Obergrenze der Hilfsbereitschaft ist armselig! Unser Land ist stark genug, Grundrechte uneingeschränkt zu verteidigen.“ Dazu eine Grafik: „200 000 Flüchtlinge pro Jahr? 65 Millionen sind auf der Flucht vor Krieg, Gewalt und Vertreibung.“

Grundrechte uneingeschränkt verteidigen?

Deutschland verteidigte also uneingeschränkt die Grundrechte nach Giegolds Ansicht, wenn es sich für 65 Millionen Menschen öffnete? Vielleicht meint es Giegold, der in ATTAC-Kreisen auch als "Wirtschaftsexperte" gilt, dann doch nicht so konkret. Das ist halt das Praktische am Dasein als Kardinal oder Grünen-Abgeordneter in Brüssel: Man kann herrlich maßlos das Gute einfordern, ohne für profane Konsequenzen geradestehen zu müssen.

Bei näherer Betrachtung übrigens ist die besagte Einigung der Unionsparteien gar nicht so streng (und unchristlich sowieso nicht), wie sie Marx, Trittin und Giegold beklagen. Schließlich bleibt es dabei, dass weiterhin niemand an deutschen Grenzen abgewiesen werden soll, der um Asyl bittet. Die Zahl 200.000 ist schließlich nur ein Wunsch, denn sollte sie, so die Verlautbarung, „wider Erwarten durch internationale oder nationale Entwicklungen nicht eingehalten werden, werden die Bundesregierung und der Bundestag geeignete Anpassungen des Ziels nach unten oder oben beschließen“.  Der Hinweis auf „Entwicklungen“ ist also entscheidend - und nicht die Zahl. In Klardeutsch übersetzt heißt das: Wenn es ernst wird und mehr Zuwanderer kommen als gewünscht, werden wir nichts dagegen tun, sondern die Kommunikation anpassen.

Bei der Union sind ganz offenbar kommunikative Verrenkungen wie diese schwesterliche Pseudo-Einigung, die in erster Linie der Gesichtswahrung von Unionspolitikern und der Sedierung von Unionswählern dient, wichtiger als das, was man sonst als „Politik machen“ bezeichnet.

Union will Zuwanderung von maximal 200.000 Flüchtlingen

Der fromme Wunsch des Kardinals, dass bloß nicht nur „schlaue Köpfe“ nach Deutschland kommen sollten, dürfte also in Erfüllung gehen. Ein Einwanderungsgesetz, das eine Mehrheit der Bundesbürger von der künftigen Bundesregierung erwartet, wird nicht begrenzend wirken können und somit weitgehend bedeutungslos sein, weil de facto eben weiterhin jeder Mensch als Asylbewerber oder Flüchtling nach Deutschland zuwandern und mangels Abschiebemöglichkeiten mit großer Wahrscheinlichkeit selbst nach ablehnendem Bescheid bleiben kann. „Allein“ gelassen wird also niemand, sofern er sich nur die Schlepperkosten leisten kann.

Marx kann beruhigt sein: Die deutsche Einwanderungspolitik bleibt letztlich dem Prinzip der grenzenlosen moralischen Selbstüberhöhung treu, das er einfordert. Und offenbar auch dem Glauben, dass sozialstaatliche Mittel ähnlich entstehen wie Brot und Fisch bei der Speisung der Fünftausend am See Genezareth.

Das Land, das sonst so viel Wert auf Weltoffenheit legt, ignoriert weiterhin das Beispiel anderer Einwanderungsländer, die selbstverständlich nicht nur ökonomische Bedingungen für legale Einwanderung stellen, sondern auch Obergrenzen für die Aufnahme von Kriegsflüchtlingen und Asylbewerbern definieren. Hier geht es wohlgemerkt nicht um Autokratien und Menschenrechtsverächter, sondern zum Beispiel um die beiden Heimatländer der Menschenrechte: die USA und Frankreich. In Frankreich spricht man derzeit von 10.000 aufzunehmenden Flüchtlingen für 2017 und 2018. In den USA setzte nicht erst Donald Trumps Regierung ein Limit für die Aufnahmebereitschaft (45.000 für 2018) fest, sondern auch die Regierungen von Friedensnobelpreisträger Barack Obama (110.000 für 2017) und dessen Vorgängern. Noch nie wurden diese Obergrenzen überschritten. Die USA haben übrigens mehr als 320 Millionen Einwohner und das 27-fache der deutschen Staatsfläche.

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