Knauß kontert

„Deutsch-Werden“ mit Frank-Walter Steinmeier?

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Deutscher oder lieber nur Mensch sein?

Zwischen Özuğuz' und Steinmeiers Vorstellungen von Integration liegen Welten. Erstere will den Einwanderern außer Spracherwerb gar keine kulturelle Anpassung zumuten - Steinmeier dagegen erwartet Anpassung ausgerechnet auf dem schwierigsten Feld: Annahme der Verantwortung aus der durch das größte Menschheitsverbrechen kontaminierten deutschen Geschichte!

Ersteres ist gefährlich, da es in letzter Konsequenz den Verlust des gesellschaftlichen Zusammenhalts in Kauf nimmt. Letzteres ist schlicht unrealistisch.

Zu der Ehrlichkeit in Migrationsfragen, die Steinmeier einfordert, gehört zweierlei, das er in seiner Rede wohlweislich nicht erwähnte. Zunächst: Es ist zweifellos ökonomisch attraktiv, in Deutschland zu leben und eine deutsche Staatsbürgerschaft zu besitzen. Aber „Deutsch-Sein“ und „-Werden“ ist vor dem Hintergrund der Geschichte eben ausgesprochen unattraktiv.

Die Deutschen selbst zeigen schließlich auch nicht gerade großen Enthusiasmus dabei. „Ausländer, lasst uns nicht mit den Deutschen allein“, war schon in den 1990er Jahren ein beliebter Spruch bei Demonstrationen. Die das sagten, wollten offenbar selbst nicht für Deutsche gelten. Möglicherweise ist der fortschreitende Verzicht auf den Begriff des „Deutschen“ in der politischen Kommunikation zu Gunsten von „Menschen“ eine Reaktion auf das unterschwellige Verlangen vieler Deutscher ihrem Deutsch-Sein zu entkommen. Und die Willkommenskultur ist vielleicht deswegen so besonders verbreitet hierzulande, weil sie in Aussicht stellt, nur noch ein Mensch zu sein, der schon immer hier am „Standort Deutschland“ lebt und arbeitet, aber kein Deutscher mehr sein muss. 

Welchen Anreiz sollten nun Zuwanderer verspüren, die zweifellos schwerwiegende historische Last des „Deutsch-Seins“ mitzutragen? Eine Umfrage der ZEIT von 2010 offenbarte, dass 60 Prozent der in Deutschland lebenden türkischstämmigen Menschen den Umgang der Deutschen mit ihrer Geschichte für „eher abschreckend“ hielten. 43 Prozent sahen in der intensiven Beschäftigung mit der Judenverfolgung „eher ein Zeichen von Schwäche“. 53 Prozent stimmten der Forderung zu, „die Deutschen sollten sich heute weniger mit der Judenverfolgung, dafür mehr mit der Politik Israels gegenüber den Palästinensern beschäftigen“. Wenig spricht dafür anzunehmen, dass das Meinungsbild bei den aus arabischen Ländern oder Afrika Eingewanderten mehr im Sinne einer Anteilnahme an deutscher historischer Verantwortung ausfiele.

Zur Ehrlichkeit gehörte also auch das Eingeständnis: Die Chancen, dass nun ausgerechnet diese am „Deutsch-Sein“ schwer tragende deutsche Gesellschaft und dieser bislang gegenüber Zuwanderern ausgesprochen großzügige und anspruchslose deutsche Staat das „Deutsch-Werden“ von Zuwanderern durch Annahme der Geschichtsverantwortung erfolgreich einfordern kann, sind gering.

Zuwanderer bringen nicht nur Arbeitskraft und Konsumbedürfnisse mit, sondern auch ihre Bilder von der Geschichte. Zu glauben, dass man diese leicht umerziehen kann, ist illusorisch. Erst recht bei anhaltendem Zuzug. Die Migrationsgeschichte lehrt, dass Zuwanderung die aufnehmenden Länder und Gesellschaften grundlegend verändert. Nicht nur ökonomisch und sozial. Kein gesellschaftlicher Bereich, auch nicht das öffentliche Geschichtsbewusstsein, wird davon völlig verschont bleiben können.

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