Knauß kontert
Deutschlands gespaltene Gesellschaft. Quelle: Getty Images

Die gespaltene Wirklichkeit der Deutschen

Ferdinand Knauß Quelle: Frank Beer für WirtschaftsWoche
Ferdinand Knauß Reporter, Redakteur Politik WirtschaftsWoche Online Zur Kolumnen-Übersicht: Anders gesagt

Mit der Wirtschaftslage sind die Deutschen hoch zufrieden. Trotzdem sind sie politisch verunsichert. Denn ihre Sorgen sind nicht ökonomischer Natur. Die politische Klasse der Nach-Merkel-Ära wird das lernen müssen.

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Das 28-seitige Papier „Ergebnisse der Sondierungsgespräche von CDU, CSU und SPD“ beginnt in seiner „Präambel“ mit der Feststellung eines Widerspruchs: „Die Wirtschaft boomt, noch nie waren so viele Menschen in Arbeit und Beschäftigung“. Nach der durchaus fragwürdig-selbstgerechten Behauptung, dies sei „auch Ergebnis der Regierungszusammenarbeit von CDU, CSU und SPD“, kommt dann das Eingeständnis: „Das Wahlergebnis zeigt aber auch, dass viele Menschen unzufrieden waren.“  

Umfragen offenbaren eine – scheinbar – schizophrene Gesellschaft. Mit der ökonomischen Lage, auch ihrer persönlichen materiellen und beruflichen Lage sind die meisten Deutschen zufrieden und zumindest für die absehbare Zukunft zuversichtlich, wie die Chefin des Allensbach-Instituts, Renate Köcher, kürzlich in der WirtschaftsWoche berichtete. Aber verunsichert sind sie über die Aussichten des Landes und der Gesellschaft jenseits der Ökonomie.

Das alte Erfolgsrezept regierender Parteien – man sorgt für Wirtschaftswachstum und wird daher wieder gewählt - ist offensichtlich nicht mehr uneingeschränkt gültig. Bill Clintons Leitspruch muss also abgewandelt werden: „It’s - not only - the economy, stupid!“ Die Deutschen und vermutlich auch weitere westliche Gesellschaften ahnen nach sieben Jahrzehnten Wohlstandssteigerung, dass Politik noch andere, grundlegendere Zwecke als die Schaffung guter ökonomischer Rahmenbedingungen hat.

Die Bürger bangen um ihre Sicherheit...

 

Die Erfahrung abnehmender politischer Überzeugungskraft ökonomischen Erfolgs muss auch Angela Merkel machen. Ein Zwiespalt, ein große Einerseits-Andererseits, bestimmt die Haltung der Deutschen zu ihrer Bundeskanzlerin. In einer für das Handelsblatt durchgeführten Umfrage von Infratest-dimap erkennen sie Merkel als „geteilte Kanzlerin“ . Einerseits erhält sie immer noch große Anerkennung für ihre Ruhe und Gelassenheit, andererseits wird ihre Entscheidungsschwäche von 23 Prozent als größtes Manko angesehen.

Zwei Drittel der Bürger (62 Prozent) rechnen ihr die gute wirtschaftliche Lage an. Doch die Ängste der Bürger betreffen nicht das Bruttoinlandsprodukt – 2017 um stolze 2,2 Prozent gestiegen. Die Sorgen der Deutschen sind andere, nicht unmittelbar oder gar nicht ökonomisch bestimmte.

So schätzen die Deutschen die Entwicklung der nächsten Monate ein

Der Psychologe Stephan Grünewald hat in seinen 50 Tiefeninterviews schon vor den Bundestagswahlen ein ähnliches Bild der deutschen Seelenlage erkannt. Die Deutschen sehen ein Land, das wirtschaftlich kraftstrotzend ist. Aber sie offenbarten dem Psychologen auch eine „große ungestillte Sehnsucht nach Sicherheit und Orientierung“.

Deutschland werde, so Grünewald, „trotz seines Wohlstandes als verwahrlostes Land erlebt: Marode Schulen, kaputte Autobahnen, No-Go-Areas, Geheim-Absprachen zwischen Politik und Industrie, eine sich immer weiter öffnende soziale Schere, eine zunehmend gefühlte Unsicherheit im Alltag, in dem die gewohnte Selbstverständlichkeiten mehr und mehr verschwinden.“ Das passt ziemlich exakt zu den Umfrageergebnissen von Allensbach zu den Sorgen der Deutschen: zunehmende Gewalt und Kriminalität, zunehmende Unterschiede zwischen Arm und Reich, Terroranschläge, Extremismus, Einfluss des Islam, Flüchtlinge…

Der Staat wird fetter - und damit schwächer

Nach den Wahlen, so kann man den Befund vermutlich aktualisieren, sehen und erleben die Deutschen nun auch ein Land, das politisch wie gelähmt erscheint.

Dessen politische Klasse nichts wesentlich anderes zu wollen scheint, als den von ihr regierten Staat weiter aufzublähen, indem immer mehr Geld eingenommen und mindestens genauso viel Geld ausgegeben wird.

Sie erleben einen inflationären Prozess der Entwertung nicht nur von Geldvermögen, sondern auch von politischer Substanz. Der jüngste Beleg dieser Inflationierung sind die 28 Seiten, die die GroKo-Sondierer nun produziert haben. Wohlgemerkt: Dies ist noch nicht der Koalitionsvertrag. Der von 2013 hatte 185 Seiten. Zur historischen Erinnerung: Zu Adenauers Zeiten reichte ein unveröffentlichter Briefwechsel mit Absichtserklärungen. 1983 genügten der ersten Kohl-Regierung acht Seiten.

von Marc Etzold, Max Haerder, Christian Ramthun, Christian Schlesiger, Thomas Schmelzer

Wenn man sich die unerfreuliche Mühe macht, nicht nur die Milliarden-Ausgaben-Auflistungen zu suchen, sondern den GroKo-Sondiererer-Text selbst zu lesen, muss man schon nach wenigen Sätzen mit größer Langeweile kämpfen. Da stehen Phrasen wie: „Kunst und Kultur sind Ausdruck des menschlichen Daseins.“

Der exponentiell gewachsene Umfang der Koalitionstexte erscheint umgekehrt proportional zum politischen Gestaltungsanspruch.

Die immer schneller drehende Umtriebigkeit und wachsende Ausgabenfixiertheit des parteipolitischen Betriebs in immer detaillierterer Weise dürfte die Sorgen der Bürger nicht wirklich beruhigen. Das Milliardengeschacher dürfte eher noch den Eindruck verstärken, dass die Erhöhung des Durchlaufs von Geld durch das staatliche Umverteilungsgetriebe sich längst von den Bedürfnissen der Bürger entfernt hat. Es hat mit ihren größten Sorgen und Ängsten nichts zu tun. Anders gesagt: Unser Staat wird immer fetter, aber erscheint auch schwächer in den Bereichen, die eigentlich mal seine wichtigste und erste Aufgabe waren: Sicherheit und innerer Friede.

In der Einigung steckt viel Union, wenig SPD

Die große gesellschaftliche Verunsicherung dürfte auf der sich allmählich einschleichenden Erkenntnis beruhen, dass die Meisterschaft im Wohlstand Vermehren, die Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erreicht hat, nicht mehr die allein ausreichende Antwort auf die Gefahren des 21. ist.

All die existentiellen politischen Fähigkeiten, die nicht mit produzieren, umverteilen, versorgen, kümmern und konsumieren zu tun haben, müssen in Deutschland erst mühsam eingeübt werden.

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