Knauß kontert Die Illusionen der grenzenlosen Welt

In der Forderung nach völlig offenen Grenzen sind sich radikale Linke und Ultraliberale einig. Die einen träumen von weltweiter Solidarität, die anderen von der totalen Effizienz. Beides sind fatale Illusionen.

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Demonstration für zwei Ziele, die nicht zusammen zu haben sind: Offene Grenzen und Solidarität.

Seltsam ruhig sind sie geworden, die Stimmen, die 2015 überschwänglich ein „neues Wirtschaftswunder“ (Dieter Zetsche) in Aussicht stellten – angetrieben durch die demonstrative Öffnung Deutschlands für Zuwanderer. Beispielhaft war ein Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung mit dem Titel „Roter Teppich für Migranten“, in dem, pünktlich zu Angela Merkels Entscheidung Anfang September 2015, die grenzenlose Migrationsfreiheit als „Win-Win-Win-Situation“ erklärt wurde. Alle profitierten von der Abschaffung der Migrationshindernisse, so die durch Ökonomie-Lehrbücher untermauerte These der Autoren Ralph Bollmann und Lena Schipper, die Aufnehmenden, die Zuwandernden und die in den Herkunftsländern Zurückgebliebenen. Eine Traum-Konstellation! Zumal es auch noch „moralisch geboten“ sei, „Einwanderer mit offenen Armen willkommen“ zu heißen.

In der Freude über den – zumindest schien es damals so - Aufbruch in eine grenzenlose Welt der Migration offenbarte sich ein Pärchen von Geistesverwandten: Ganz offensichtlich stehen marktradikale Ökonomen und Konzernlenker wie Dieter Zetsche einerseits und die No-Borders-Linke andererseits in der vielleicht wichtigsten politischen Frage der Gegenwart auf einer Seite. Sie scheinen vereint in ihrem Traum von einer grenzenlosen völlig migrationsoffenen Welt.

Asylanträge nach Bundesländern 2017

Der Witz ist, dass sie sich gegenseitig entweder ignorieren oder sogar zu bekämpfen glauben, sich jedenfalls ihrer politischen Übereinstimmung überhaupt nicht bewusst sind. Noch immer gefällt sich das Gros der Linken und allen voran die so genannte „Antifa“ in der Beschwörung der altkommunistischen Legende von der Identität von Kapitalismus und Nationalismus. Noch immer glaubt man offenbar, man bekämpfe den Kapitalismus am wirkungsvollsten, indem man den (National)Staat und seine Grenzhoheit unterminiere und Einwanderer willkommen heiße. Ganz offensichtlich spukt noch immer die Idee eines gewissen Leo Trotzki in manchem linken Kopf herum: Revolution nicht in einem Land, sondern in der ganzen, grenzenlosen Welt.

Das Asylpaket II

Bis weit hinein in die Sozial- und Geisteswissenschaften sind solche Konzepte verbreitet. Ein aktuelles Beispiel liefern Ulrich Brand und Markus Wissen mit ihrem demnächst erscheinenden Buch „Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus“. Demnach beuten die Staaten und Gesellschaften des „globalen Nordens“ diejenigen des „globalen Südens“ aus, indem sie die sozial-ökologischen Kosten ihres imperialen Lebens dort ablüden. Die Migrationsbewegungen nach Norden seien als Gegenwehr des Südens zu begreifen, auf die wiederum „die kapitalistischen Zentren“ mit einer „autoritären Politik der Abschottung und Ausgrenzung“ reagierten. Dass die Tonangebenden in jenen „kapitalistischen Zentren“ nicht weniger gegen „Abschottung“ sind als sie selbst, haben Brand und Wissen offenbar noch nicht mitbekommen.

Die Alternative, die Brand und Wissen in Aussicht stellen, ist:  eine „solidarische Lebensweise“ in einer (vom Nationalstaat und seinen Begrenzungen befreiten) „demokratischen, sozial und ökologisch gerechten Gesellschaft im globalen Maßstab“. Die Schritte dahin: „Solidarität mit Geflüchteten sowie die Kämpfe um Ernährungssouveränität, Klimagerechtigkeit und Energiedemokratie“. Ein weltumspannender Wunschtraum also, in dem die überkommenen Gesellschaften und die Staaten, in denen sie sich bislang organisieren, also die Strukturen, die Ordnung, aber auch Macht mit sich bringen, keine Rolle mehr spielen sollen. Man könnte es auch einfach Anarchie nennen – wenn der Begriff nicht so sehr nach Bombenlegern und so wenig nach ökologisch nachhaltiger Ernährung klänge.

Ein anarchischer Kern ist aber nicht nur auf der linken Seite des Anti-Grenzen-Bündnisses auszumachen. Der Dichter Fernando Pessoa – ein hauptberuflicher Kaufmann - hat in seiner Erzählung „Ein anarchistischer Bankier“ einen Menschen vorgestellt, der sein anarchisches Ideal der totalen Freiheit konsequent verwirklicht. Er wird nicht trotzdem, sondern gerade deswegen vom armen Arbeiter zum steinreichen Bankier, indem er sich als praktizierender Anarchist über alle gesellschaftlichen Konventionen, alle vom Menschen geschaffenen Einrichtungen hinwegsetzt, die die Freiheit des Einzelnen beschränken - "angefangen von der Familie bis hin zum Geld, von der Religion bis zum Staat". Weil er natürlich alleine diese gesellschaftlichen Fiktionen nicht abschaffen konnte, beschränkte er sich darauf, sie für sich persönlich unwirksam zu machen: vor allem die entscheidendste gesellschaftliche Schöpfung, das Geld. Also beschloss er, davon als Händler und Bankier so viel wie möglich anzuhäufen. Die Bombenleger seien „nur in der Theorie Anarchisten, ich bin es in der Theorie und in der Praxis. Die da sind Anarchisten und Dummköpfe, ich bin Anarchist und gescheit. Darum, mein Guter, bin ich der wahre Anarchist.“

Pessoas Büchlein von 1922 wäre eine erkenntnisreiche Lektüre für marktradikale Libertäre und Träumer der Weltsolidarität gleichermaßen. Sein Buch ist ein Ruf zur Mäßigung gegenüber jenen Radikalen unterschiedlicher Couleur, seien sie radikal kapitalistisch oder radikal antikapitalistisch, die die unverzichtbare Rolle von gewachsenen Strukturen fürs das private Leben, für das politische Leben, für jede soziale Ordnung insgesamt ignorieren. Diese Strukturen, zu denen nicht zuletzt Staatsgrenzen und Staatsangehörigkeiten gehören, bringen natürlich auch ungleiche Lebenschancen und Machtverhältnisse mit sich.

Der Elefant im Raum

Aber diese begrenzenden Strukturen deswegen ganz und gar zu sprengen, dürfte weder zu einem grenzenlosen Weltreich der gelebten Solidarität und Gerechtigkeit führen, von dem linke Grenzüberwinder träumen, noch zum Ideal einer grenzenlos effizienten und von keiner sozialen Rücksicht gebremsten Weltmarktordnung, auf die radikalliberale Ökonomen und Unternehmenslenker spekulieren. Beide beruhen auf Illusionen, weil beide die Bedeutung eben dieser historisch gewachsenen Strukturen unterschätzen.

Entgegen mancher Vorurteile ist jeder funktionierende Markt auf verlässliche staatliche Strukturen angewiesen. Auch Pessoas anarchistischer Bankier konnte nur reich werden, weil es diese Strukturen gab, von denen er sich selbst (und nicht alle anderen!) befreien wollte. Und zu diesen Strukturen gehört nicht zuletzt die begrenzende Kontrolle über den Zuzug von Ausländern, das heißt den Zugang von Außenstehenden zum Arbeitsmarkt und zur Solidargemeinschaft. Denn in einem konsequent grenz- und staatenlosen Raum herrscht - das zeigt die Weltgeschichte nun wirklich deutlich genug - nicht das Ordnungsprinzip von Angebot und Nachfrage, sondern das der stärksten Faust.

Ebenso wie ein funktionierender Markt kann auch Solidarität, die nicht nur eine idealistische Phrase sein soll, sondern eine Kombination von Rechten und Pflichten, nur im Rahmen von vertrauenswürdigen, also kulturell verwurzelten Institutionen stattfinden. Und diese können nur begrenzte Menschengruppen umfassen, die dieses Vertrauen in einem langen historischen Prozess entwickelt haben. Denn die Möglichkeiten und die Bereitschaft der Mitglieder zum Geben muss mit den Bedürfnissen der Empfänger im Gleichgewicht stehen. Der Nationalstaat als Sozialstaat ist so eine Solidargemeinschaft. Die Misserfolgsgeschichte der Europäischen Union zeigt, wie zerbrechlich und konfliktanfällig die Konstruktion einer darüber hinaus gehenden Solidargemeinschaft ist, wenn Ansprüche der Empfänger und Unterstützungsbereitschaft der Geber verschieden sind. Die gesamte Menschheit ist jedenfalls auf absehbare Zeit keine vertrauenswürdige Solidargemeinschaft.     

Natürlich weiß noch niemand, wie die mittel- und langfristigen Auswirkungen der extrem permissiven deutschen Zuwanderungspraxis auf die ökonomische Dynamik aussehen werden. Doch die Auswirkung der Öffnung des deutschen Sozialstaates für alle, die es irgendwie schaffen deutsches Staatsgebiet zu erreichen, sind anderthalb Jahre nach der Willkommenseuphorie von 2015 offenkundig: Die Zahl der Empfänger von Solidaritätsleistungen steigt sehr viel schneller als die der Geber.

Noch kann die Bundesregierung die extrem gestiegenen Mehrausgaben dank des Booms bewältigen, ohne dass die einheimischen Geber und Empfänger die Folgen der Grenzöffnung unmittelbar finanziell spüren. Doch die Nachricht dieser Woche, dass der gesamte Etatüberschuss des Bundes 2016 in die Rücklage für die noch zu erwartenden Flüchtlingskosten fließen wird, zeigt auf den sprichwörtlichen „Elefanten im Raum“, den sich die Politik in Deutschland zu ignorieren entschlossen hat: Auf mittlere und lange Sicht ist die gleichzeitige Fortexistenz von unbegrenzter Zuwanderung, versorgendem Sozialstaat und sozialer Marktwirtschaft nicht vereinbar.

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