Nun ja, die Kenntnisse Merkels über Emil Noldes Kunst und Richard Wagners Opern, sind nicht wirklich relevant für ihre Funktion als Bundeskanzlerin. Aber auch Literatur mit unmittelbarem Bezug zu ihrer Politik scheint die Kanzlerin wenig zu interessieren. Das von Millionen Deutschen diskutierte Buch „Deutschland schafft sich ab“ von Thilo Sarrazin bezeichnete sie schon vor Erscheinen als „überhaupt nicht hilfreich“, um später zuzugeben, dass sie es gar nicht gelesen habe. Seither sagt sie über Bücher, die das Land bewegen, einfach gar nichts. Zum Beispiel über „Die Getriebenen“ von Robin Alexander. Da geht es immerhin um ihr und ihrer Minister Handeln in einer entscheidenden Phase ihrer Kanzlerschaft. Das Fazit ist vernichtend: eine Regierung, die sich von der Angst vor hässlichen Bildern treiben lässt.
Die Kanzlerin schweigt auch dazu. Das ist gerade ihr Erfolgsrezept: Diskurse vermeiden. Sie beherrscht wie kein anderer Politiker die Kunst, Politik hinter einem Schleier der Geschäftigkeit zu verstecken. Sie ist dauerpräsent, ohne je etwas wirklich diskutables jenseits von Allgemeinplätzen und Phrasen – „Wir schaffen das“ – zu sagen. Sie ist sehr schlau und hat erkannt, dass man heutzutage leichter regiert, wenn man nicht über politische Überzeugungen und Ziele spricht, sondern Gefühlslagen bedient.
Einmal passierte ihr ein Ausrutscher. In ihrer Regierungserklärung von 2009 schien sich ein Interesse an grundsätzlichen, großen Fragen der Zeit anzukündigen, als Merkel ankündigte, man habe nun den Auftrag, „eine Art des Wirtschaftens zu entwickeln, die nicht die Grundlagen ihres eigenen Erfolgs zerstört“. Ökologische Denker wie Meinhard Miegel erinnern immer wieder an dieses Merkel-Wort. Aber es gibt seither keine Reaktion mehr aus dem Kanzleramt. Auch die Ergebnisse der Enquete-Kommission des Bundestages zu „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“, des wohl einzigen groß angelegten Versuchs dieses Jahrzehnts, Politiker und Denker zusammen zu bringen, stießen bei Merkel auf kein erkennbares Interesse.
Merkel hat aus ihrer größten Schwäche eine Stärke gemacht
Merkel hat ihre größte Schwäche, die Unfähigkeit zur klaren und konzisen Sprache, zu einer Stärke umfunktioniert. Ein Kunstwerk, das Max Weber mit seiner Vorstellung vom charismatischen Politiker, der in Redeschlachten Mehrheiten überzeugt, wohl noch für unmöglich gehalten hätte. Aber Weber kannte eben die postdemokratische, sentimentale Wohlstandsgesellschaft noch nicht. Merkel kann so regieren, wie sie es tut, weil die Regierten ihr das zubilligen und keine Erklärungen verlangen, sofern ihre moralischen Gefühle befriedigt werden.
Merkel entzieht sich dadurch nicht nur den Niederungen des Wahlkampfes (und treibt Martin Schulz damit zur Verzweiflung), sondern der Politik generell. Zumindest dem, was man früher einmal unter demokratischer Politik verstand, nämlich dem dialektischen Prozess zwischen Regierungshandeln, Kritik der Opposition und Rechtfertigung der Regierung.
Erinnert sich, jetzt wo der große Helmut Kohl tot ist, noch jemand an die Dauerkritik der Journalisten und fast der gesamten publizierenden Klasse an ihm? Und an seine oft wütenden Antworten vor Fernsehkameras? An sein standhaftes Deutschlandlied-Singen am Abend nach dem Mauerfall gegen das Gepfeife seiner geschichtsblinden Gegner in Berlin?
Merkel nutzt eine Möglichkeit aus, die wir ihr lassen
All das bleibt Merkel erspart. Mehr noch: Wenn Publizisten, die ihr das nicht ersparen wollen, „Eine kritische Bilanz“ vorlegen, wird diesen dafür in der Taz „Hass“ unterstellt. Und öffentliches Hassen ist bekanntlich demnächst strafbar. Während Journalisten sich einst vor allem Kritik an den Regierenden zur Aufgabe machten und Kohl und seiner CDU keine ruhige Minute ließen, kritisieren sie jetzt lieber die wenigen Regierungskritiker. Da kann Angela Merkel in Ruhe ihren anstrengenden Termin-Marathon abklappern.
Der eigentliche Vorwurf ist also nicht der Kanzlerin zu machen. Sie nutzt dank ihrer phänomenalen Intelligenz nur eine Möglichkeit, die ihr das Volk und vor allem dessen Elite gewährt: Es lässt sich beeindrucken von der Präsentation kümmernder Geschäftigkeit und (durchaus glaubhafter) Redlichkeit – und verzichtet auf das, was jede Regierung ihm, also dem Souverän, nach demokratischer Theorie eigentlich schuldig ist: Rechenschaft.