
Das Schlagwort von der „offenen Gesellschaft“ ist derzeit schwer in Mode. Die Kanzlerin führt es oft im Munde. Man dürfe sie im Kampf gegen den islamistischen Terrorismus nicht opfern, sagte die Bundeskanzlerin zum Beispiel im April dieses Jahres. Im November auf dem Integrationsgipfel erwähnte sie den Begriff bewusst angesichts des Wahlerfolgs von Donald Trump.
Als Bedrohung erscheinen nicht nur Islamisten, sondern auch Rechtspopulisten und die Renaissance autoritärer Machthaber. Zu den selbsternannten Verteidigern der „offenen Gesellschaft“ gehören neben der Kanzlerin zum Beispiel auch der Stellvertretende EU-Kommissionpräsident Frans Timmermans, der, vom Handelsblatt angesprochen auf Trump, Le Pen und Wilders, von einer „ideologischen Konfrontation“ sprach. Es ginge „darum, ob wir eine offene Gesellschaft wollen oder eine geschlossene“. Botschaft: Die Europäische Kommission ist eine Bastion der offenen Gesellschaft.
"Offen" hat mit Grenzen nichts zu tun
In diesem Zusammenhang gebraucht, muss man natürlich davon ausgehen, dass „offen“ sich vor allem auf die nationalen Grenzen bezieht, die Trump, Le Pen und Wilders, nicht mehr offen halten wollen. Zumindest nicht für weitere Einwanderung. Aber die „offene Gesellschaft“, die ihre selbsterklärten Freunde verteidigen will, hat damit ursprünglich allenfalls mittelbar zu tun.
Die „offene Gesellschaft und ihre Feinde“ ist der Titel eines Buches des Wissenschaftlers und Philosophen Karl Popper. Der wegen seiner jüdischen Herkunft aus Österreich emigrierte Popper schreib es während des Zweiten Weltkriegs im neuseeländischen Exil. Es wurde bald zu einem der grundlegenden Referenzwerke der liberalen Demokratie – und sein Titel zu einer Formel, die mit zunehmendem zeitlichem Abstand zum Erscheinen im Epochenjahr 1945 immer öfter als Sonntagsreden-Phrase missbraucht wird.





Popper ging es in diesem Buch in erster Linie um die Kritik an dem Glauben, „dass die Geschichte als Ganzes sich nach bestimmten Naturgesetzen entwickeln würde oder nach einem nicht vom Menschen gemachten Plan verlaufe und ein Ziel habe“. Popper führt in dafür die Bezeichnung Historizismus ein. Zu ihm gehört auch der Glaube, dass es Individuen oder „Klassen“ von Individuen gäbe, die wissen, welche politischen Entscheidungen richtig sind, weil sie das Gemeinwesen dem vorgegebenen Ziel näher bringen. Popper warnte vor der Anmaßung dieser Menschen, die vorgeben, das Ziel und den Weg dahin zu kennen. Damit waren, wie er später sagte, ideologische Diktatoren wie Hitler und Stalin gemeint – obwohl ihre Namen im Buch nicht vorkommen.
Die Zukunft ist offen
Dass dieser historizistische Glaube auf angemaßtem Wissen beruht, zeigt nach Popper die Natur des Wissens selbst: Die Zukunft ist offen und nicht historisch vorbestimmt, weil der Verlauf der Geschichte nicht zuletzt auf der Entwicklung des Wissens beruht, und niemand weiß, was man künftig wissen wird. Trotzdem hätten es immer wieder Philosophen und Staatsmänner von Plato bis Lenin geschafft, ihre Mitmenschen davon zu überzeugen, dass sie wüssten, wie es weitergehen müsse und werde. Und diese Überzeugungskraft nutzen sie als paternalistische Politiker, die vorgeblich besser wissen, was für die Menschen gut ist, als diese selbst.