Dass „Angst kein guter Ratgeber“ sei, gehört zu den wohl meistgeäußerten Phrasen der Gegenwart. Ob Bundespräsident oder Bundeskanzlerin – gegen Angst zu sein, gehört derzeit offensichtlich zum guten Ton. Die Angst, die gemeint ist, ist meist diejenige vor Einwanderung, vor Terror, vor Geldentwertung, vor dem großen Crash, kurz: vor dem Kollaps hergebrachter staatlicher, gesellschaftlicher und nicht zuletzt ökonomischer Ordnung.
Ein Abtprimas namens Notker Wolf hat nun sogar ein Buch geschrieben, das „Schluss mit der Angst!“ heißt. Der Untertitel: „Deutschland schafft sich nicht ab“. Er spielt damit auf Thilo Sarrazins Skandal-Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ an, der als Prototyp der Angstmache gilt. Und wer Angst schürt, der betreibt das Geschäft der Populisten, so zumindest eine weitverbreitete Interpretation.
Eine andere Angst vor einem anderen Kollaps wird dagegen von der Bundeskanzlerin und vielen weiteren selbsternannten Anti-Angst-Kämpfern durchaus als guter politischer Ratgeber akzeptiert: nämlich die vor dem Klimawandel. In Bonn auf der Weltklimakonferenz befassten sich in der vergangenen Woche die Vertreter fast aller Regierungen mit der Frage, wie eine globale Katastrophe verhindert oder abgemildert werden kann. Vor ihr zu warnen – man könnte auch sagen: Angst zu schüren – ist ein einträgliches Geschäft für eine ganze Industrie von NGOs und Vereinen, die personell und auch finanziell oft eng mit politischen Parteien verbunden sind.
Aus Sicht vieler Politiker scheinen nur die Ängste legitim zu sein, die man selbst gerne lösen möchte. Das gilt für Grüne, die durch das Verbot von Verbrennungsmotoren und die Begrenzung von Emissionsrechten die Klimakatastrophe zu verhindern versprechen, während sie gleichzeitig jegliche Obergrenze für Einwanderung zum „absoluten No-Go“ (Simone Peter) erklären. Das gilt aber ebenso für die AfD, die Deutschland vor der Selbstabschaffung durch Einwanderung und EU retten will, während sie den anthropogenen Klimawandel in ihrem Grundsatzprogramm in Frage stellt. Die Ängste der jeweils anderen werden auf beiden Seiten als irrational und von miesen Hintermännern aufgebauscht dargestellt.
Darum geht es beim Weltklimagipfel in Bonn
Neben Klimapolitikern, Wissenschaftlern und Aktivisten kommen auch Staats- und Regierungschefs - und einige Promis. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat sich angekündigt, Kanzlerin Angela Merkel ebenfalls. Schauspieler Leonardo DiCaprio, der sich schon lange für Klimaschutz stark macht, soll ebenso vorbei schauen wie der US-Politiker und Friedensnobelpreisträger Al Gore. Der Gouverneur von Kalifornien, Jerry Brown, wird auch erwartet. Klimaschützer sehen ihn als wichtigen Gegenspieler von US-Präsident Donald Trump im Kampf gegen die Erderwärmung. Auch Browns Vorgänger wird dabei sein, der in Deutschland noch viel bekannter ist: Arnold Schwarzenegger.
Normalerweise treffen die Klimadiplomaten sich in dem Land, das auch den Vorsitz hat. Einem Rotationsprinzip zufolge war diesmal ein Land aus Asien dran. Fidschi übernimmt die Präsidentschaft - erstmals eine Inselgruppe im Pazifik, die vom Klimawandel bedroht ist, das gilt als wichtiges Signal. Allerdings wäre es schwierig für Fidschi geworden, die Konferenz auch auszurichten. Daher springt Deutschland als „technischer Gastgeber“ ein. Das Sekretariat der Klimarahmenkonvention sitzt nämlich in Bonn. 2001 wurde schon mal in Bonn getagt. Und die erste Weltklimakonferenz 1995 fand in Berlin statt. Gastgeberin war die Bundesumweltministerin - die hieß damals Angela Merkel.
Die Einigung auf das Abkommen war 2015 in Paris ein riesiger Durchbruch, inzwischen haben 169 Parteien es ratifiziert. Deutschland ist dabei, die EU auch. Aber das Entscheidende ist die Umsetzung. Und wie die im Detail laufen soll, ist noch nicht klar. Grundsätzlich haben die Staaten eigene Ziele zur Treibhausgas-Minderung zugesagt. In einem Zyklus von fünf Jahren sollen deren Klimaschutzwirkungen überprüft und die Zusagen immer ehrgeiziger werden. Wichtig ist aber auch die Anpassung an den Klimawandel und der Umgang mit Schäden, die etwa steigende Meeresspiegel und Extremwetter anrichten.
Nein. Das Ziel das Pariser Abkommens ist, die Erderwärmung auf deutlich unter zwei Grad, möglichst auf 1,5 Grad einzudämmen. Schon diese begrenzte Erwärmung wird Experten zufolge deutlich spürbar sein - Dürren und Starkregen häufen sich, die Meeresspiegel steigen, das „ewige“ Eis schmilzt ab. Aber: Selbst bei Einhaltung aller bisher von den Ländern vorgelegten Klimaschutzzusagen wird sich die Erdtemperatur laut UN-Umweltprogramm um mindestens drei Grad im Vergleich zur Zeit vor der Industrialisierung erhöhen. Da muss also noch viel passieren.
Die Politiker müssen sich auf ein Regelwerk einigen, das die nationalen Klimaziele vergleichbar und überprüfbar macht. Ein Erfolg wäre aus Sicht von Klimaschützern, wenn nach der Konferenz ein Entwurf vorliegt - auch wenn es von umstrittenen Passagen noch mehrere Versionen geben dürfte. Ein Problem wäre laut Experte Jan Kowalzig von Oxfam dagegen, wenn es gar nichts Schriftliches gibt, da der Zeitdruck dann zunähme. Denn 2018 beginnt der erste „Überprüfungsdialog“, um zu sehen, ob die Staaten auf dem richtigen Weg sind. Umstritten ist zum Beispiel, welche Unterschiede zwischen Industrie- und Entwicklungsländern gemacht werden.
Offiziell nicht - aber das Timing ist natürlich bemerkenswert. Zwischen Union, FDP und Grünen, die über eine Jamaika-Koalition reden, gehört der Klimaschutz zu den umstrittensten Themen. Steigt Deutschland aus der Kohle aus, wie und bis wann? Gehören Benzin- und Dieselmotoren bald der Geschichte an? Die Grünen hoffen auf Rückenwind aus Bonn für die Verhandlungen. Die scheidende Umweltministerin Barbara Hendricks (SPD) kann nochmal richtig Politik machen, fast schon von der Oppositionsbank aus - und Kanzlerin Merkel dürfte daran gelegen sein, auf dem Bonner Parkett gut dazustehen.
COP steht für Conference of the Parties und meint die Zusammenkunft der Staaten, die die UN-Rahmenkonvention zum Klimawandel (UNFCCC) unterzeichnet und ratifiziert haben.
Während die einen untragbare ökonomische Belastungen und letztlich den Kollaps der Nation durch Zuwanderung fürchten, aber den Klimawandel für ein abstraktes oder gar erfundenes Pseudoproblem halten, betrachten die anderen Einwanderung uneingeschränkt als Bereicherung, vielleicht sogar als willkommenes Schlusskapitel einer deutschen Geschichte, die als zutiefst schuldhaft und daher belastend empfunden wird. Die einen fürchten sich als Deutsche, die anderen als Weltbürger vor dem Verlust einer gewohnten Behausung: der Nation hier, der natürlichen Lebensgrundlagen dort.
Die große Erzählung vom ewigen Fortschritt
Beide Ängste sind aus unterschiedlichen Perspektiven und Selbstwahrnehmungen verständlich. Für beide großen Ängste gibt es bei unvoreingenommener Betrachtung nachvollziehbare Erklärungen – lebensweltlich erfahrbare und wissenschaftliche. Die Indizien dafür, dass die Treibhausgasemissionen zur Erwärmung der Atmosphäre und damit verbundenen Rückkopplungen führen, werden nur von einer sehr kleinen Minderheit der Klimaforscher bezweifelt. Der Rückgang der Gletscher in den Alpen ist für jeden Touristen sichtbar, das Abschmelzen des Eises in den Polarregionen unbestreitbar. Ebenso unbestreitbar sind die Risiken für weite Teile der Menschheit.
Andererseits gibt es für historisch informierte und einigermaßen fantasiebegabte Menschen nicht unbedingt gute Gründe, sich auf postnationale Zustände so uneingeschränkt zu freuen, wie das etwa die Grünen-Chefin Katrin Göring-Eckardt zu tun scheint. Schließlich sind es vor allem gescheiterte Nicht-Nationen ohne nationalen Zusammenhalt, Länder wie Syrien, Afghanistan und die afrikanischen Staaten, aus denen Millionen Menschen in die klassischen abendländischen Nationalstaaten wandern. Die Wohlstandsräume der Gegenwart sind fast ausnahmslos die im Laufe des 19. Jahrhunderts gefestigten Nationalstaaten in Europa, Nordamerika und Ostasien. Der Nationalstaat war das Gehäuse, in dem gesellschaftlicher, technischer, wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt stattfanden – neben der unbestreitbaren Blutspur des Nationalismus.
Gegen die beiden Ängste vor dem Kollaps – der Nationen oder der Natur – steht nach wie vor die große Erzählung des Westens vom ewigen Fortschritt. Wie auf der Seite der Ängste stehen sich auch auf der Seite der Optimisten zwei Lager gegenüber, die sich allerdings mittlerweile recht gut miteinander zu arrangieren scheinen: Die einen - nennen wir Sie vereinfachend die neuen Linken - erwarten von der Zukunft die Verwirklichung einer diskriminierungsfreien, multikulturellen Weltgesellschaft mit bedingungslosem Grundeinkommen für alle.
Dazu kommen die unpolitischen Eliten in Wirtschaft und anwendungsnaher Wissenschaft, für die die „Zukunft“ immer schon heute angefangen hat. Diese Prediger des stets zu erstrebenden, aber nie endgültig erreichbaren Heils der Menschheit durch ständige Innovation und Wirtschaftswachstum haben im Silicon Valley ihr neues Zion gefunden. In dieser Welt der schon heute Zukünftigen hat sich ein quasireligiöser Aberglauben an die Allheilkraft der Digitaltechnologie eingerichtet, den Max Weber vor 100 Jahren nicht mehr für möglich gehalten hätte.
Gegen die Angst vor dem Klimakollaps haben die beiden Fraktionen der Fortschrittsoptimisten Rezepte anzubieten: Globale Kooperation und Technologie. Doch die Ängste vor dem Kollaps von Gesellschaft und Kultur können sie nicht kontern. Da hilft also nur: für unbegründet erklären. Dass das nicht nachhaltig funktioniert, zeigt das Aufkommen der so genannten Populisten, die wiederum in einer dummen Trotzreaktion die ökologische Angst ignorieren. Beide Ängste anzusprechen, scheint sich kaum ein Politiker der Gegenwart zuzutrauen.
In der Geschichte der modernen Industriegesellschaften gehörten Ängste und Ahnungen des Untergangs immer zum Diskurs dazu – von Spenglers „Untergang des Abendlandes“ bis zu den "Grenzen des Wachstums" des Club of Rome. Aber als politische Kraft war die Fortschrittshoffnung bislang stets dominierend. Vermutlich ändert sich das.