„Sagen, was ist“. Den Leitspruch hat der SPIEGEL-Gründer Rudolf Augstein geklaut. Und zwar beim sozialdemokratischen Gründervater Ferdinand Lassalle: „Alle große politische Action besteht in dem Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit.“
Die Linke hat, seit Lassalles Zeiten, zwei Seiten: Die eine steht mit den Füßen fest auf dem Boden der Realitäten (also dessen, „was ist“). Die andere verkündet das zu erkämpfende Ziel: eine bessere, gerechte Gesellschaft. „Brüder zur Sonne zur Freiheit“, heißt es entsprechend in einem Lied, das noch heute von alten Genossen gesungen wird.
Würde ein Arbeiter oder Sozialist des 19. Jahrhunderts in unsere Zeit versetzt, könnte er befriedigt feststellen: Der Kapitalismus ist zwar keineswegs abgeschafft, aber zur Sonne und zur Freiheit gelangten die Brüder der Arbeiterklasse durchaus. Das ist ein Ergebnis der durchaus ruhm- und verdienstvollen Erfolgsgeschichte der sozialdemokratischen Parteien – und der anderen, die deren Forderungen weitgehend übernommen haben.
Völlig egal, ob nun eine CDU-Kanzlerin regiert oder die SPD als Partei am Fliegenfänger hängt: Die Linke ist heute dominant. Leute, die sich als links betrachten, präsentieren sich aus alter Tradition zwar weiterhin gerne so, als seien sie noch die rebellischen Underdogs wie ihre Vorgänger. Doch tatsächlich beherrschen Wertvorstellungen, Narrative und nicht zuletzt ästhetische Vorlieben linker Herkunft alle wichtigen gesellschaftlichen Domänen – inklusive der Wirtschaft.
1968 war der endgültige Sieg auf dem Weg zur linken Hoheit über den Diskurs. Spätestens mit dem erfolgreichen Marsch der 68er durch die Institutionen muss ein Exponent linker Überzeugungen nicht mehr mit dem Widerstand des gesellschaftlichen Establishments rechnen. Zumindest sofern er nicht die Grundbedingungen einer Marktwirtschaft – vor allem das Privateigentum – infrage stellt.
50 Jahre nach 68 haben sich die Epigonen des alten linken Kampfes um die Rechte der Geknechteten in ihrer Diskurshoheit allzu bequem eingerichtet. Macht kann korrumpieren und träge machen, vor allem wenn sie nur ererbt ist und nicht mehr selbst erkämpft wurde. Das ist die eigentliche Schwäche derer, die sich heute als links ansehen. Sie haben verloren, was die alten Linken – von Marx bis Polanyi - einmal auszeichnete: unbestechliche Klarheit und Überzeugungsstärke in der Analyse der herrschenden sozio-ökonomischen Verhältnisse. „Sagen, was ist“ eben.
Heutige Linke, ob an den Universitäten, in den Medien, in der Politik, vernachlässigen diese analytische, gegenwärtige, bodenständige Seite des Linksseins. Sie haben sich in der eigenen Diskurshoheit bequem eingerichtet und sind darüber selbstgerecht und analytisch faul geworden. Statt zunächst einmal die Wirklichkeit ohne Schleier zu betrachten, verkünden Sie mit umso größerem Eifer Ideale und Glaubenssätze: „Gleichstellung“, „(Welt-)Offenheit“, „Selbstverwirklichung“… Was nicht ins eigene Weltbild passt, wird ignoriert oder aus dem Diskurs verbannt.
Verschleiertes Bild der Wirklichkeit
Beispiel? Man klagt über steigende Mieten und Häuserpreise und macht dafür „Immobilienspekulanten“ verantwortlich. Beschwiegen wird aber weitgehend, dass es durchaus eine handfeste Ursache des Problems gibt: Die Bevölkerung Deutschlands wächst, und zwar ausschließlich durch Zuwanderung. Wenn alljährlich Hunderttausende in ein bereits dicht besiedeltes Land einwandern, so muss das natürlich das Wohnungsangebot verknappen mit unangenehmen Folgen für diejenigen, die kein Immobilienvermögen besitzen. Dieselbe Ursache trägt natürlich auch dazu bei, dass die Löhne im aktuellen Boom gerade im unteren Segment kaum steigen. Das Angebot niedrig qualifizierter Arbeitskräfte erhöht sich schließlich um mehrere Hunderttausend Menschen jährlich durch die verstärkte Armutszuwanderung.
Linke können sich nicht ernsthaft wundern, dass angesichts eines derart verschleierten Blicks auf die Wirklichkeit die eigene Diskurshoheit immer wieder von einer neu erstarkten Rechten in Frage gestellt wird. Auf die Dauer behält die aber nur, wer wirklich überzeugen kann – durch „sagen, was ist“.
Linke sollten sich auch nicht wundern, dass ausgerechnet ihre angestammte Wählerschaft den linken Parteien verloren geht. Denn von den wirklichkeitsenthobenen Idealen und der Fortschrittsverliebtheit der neuen Linken versprechen sich die zu Wohlstandsbürgern gewordenen einstigen „kleinen Leute“ oft nicht mehr viel.
Für die (Ex-)Klientel der linken Parteien in den westlichen Wohlstandsgesellschaften geht es heute, nach anderthalb Jahrhunderten sozialdemokratischer Politik, nicht mehr um Befreiung aus dem Elend und Aufstieg, sondern um Bewahrung des Erreichten. Den Schutz, den sie sich vor den Zumutungen entfesselter Dynamik des Weltmarktes wünschen, verspricht ihnen zwar die SPD. Aber besonders glaubhaft ist das nicht.
Denn der größte Anachronismus der heutigen Linken, inklusive SPD, ist ihre Erzfeindschaft gegen den Nationalstaat. Es ist schließlich ihr Staat. Sozialdemokraten haben ihn in einem jahrzehntelangen politischen (in Westeuropa weitestgehend friedlichen) Kampf zum Sozialstaat geformt. Er ist daher die einzige feste Bastion der institutionellen Solidarität in einer von Wettbewerb und Märkten bestimmten Welt. Eine Linke, die ernsthaft daran interessiert ist, den Kapitalismus zu „bändigen“ und schwache Marktteilnehmer zu schützen, müsste sich für seinen Erhalt einsetzen.
Von der Linken der gegenwärtigen westlichen Gesellschaften hat der Kapitalismus jedenfalls nichts zu befürchten, solange sie sich nicht auf ihre alte analytische Kraft besinnt und sagt, „was ist“. Im Gegenteil: Als Vorhut des Globalismus reißt sie ihm seit 1968 mit vereinten Kräften die Grenzen ein, die vormoderne Tradition und Nationalstaat setzen. Für die Menschen, die sie nötig hätten, wird diese Linke der realitätsvergessenen Traumtänzer immer verzichtbarer.