Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat „uns“ neulich aufgefordert, „mutig“ zu sein. Leider haben wir solche Aufforderungen offenbar nötig. Steinmeiers Vorgänger Joachim Gauck hatte „Freiheit“ ins Zentrum seiner Reden gestellt. Freiheit ist eine öffentliche Angelegenheit, Mut dagegen ist eine persönliche Tugend. Dennoch gehören beide zusammen, denn um die Freiheit zu bewahren, ist Mut notwendig.
Als WirtschaftsWoche-Redakteur vergisst man das nicht, weil auf dem Teppichboden in unserer Redaktion die berühmten Worte des athenischen Staatsmannes Perikles in Endlosschleife stehen: „Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit, das Geheimnis der Freiheit ist der Mut.“
Besonderen Mangel an Mut muss man derzeit im Wissenschaftsbetrieb feststellen. „Jede konstruktive Auseinandersetzung wird bereits im Kern erstickt. Statt Aufbruch und Neugier führt das zu Feigheit und Anbiederung“, stellte vor wenigen Tagen Bernhard Kempen, Präsident des Deutschen Hochschulverbands fest. Er sah sich dadurch genötigt, diese Selbstverständlichkeit auszusprechen: „Konkurrierende Meinungen müssen an der Universität respektiert und ausgehalten werden.“
In keinem sozialen System ist Freiheit so unbedingt notwendig wie in der Wissenschaft. Die in Artikel 5 des Grundgesetzes festgeschriebene Wissenschaftsfreiheit ist aber nur eine Fassade, wenn es Wissenschaftlern an Mut fehlt, sich diese Freiheit immer wieder zu nehmen. Das bedeutet: zu veröffentlichen, was andere nicht veröffentlicht sehen wollen.
Das ist immer unbequem, manchmal sogar mit persönlichen Risiken verbunden. In der akademischen Herde mit zu blöken, ist dagegen bequem und im Zweifelsfalle der Karriere zuträglich.
Was dem blühen kann, der aus der Reihe tanzt und seine Freiheit als Wissenschaftler einfordert, musste Jörg Baberowski, Professor für Osteuropäische Geschichte an der Humboldt Universität, erfahren. Er hat im September 2015 den willkommenskulturellen Konsens durch Kritik an der Moralisierung und Konzeptlosigkeit der Politik gestört. Dafür und für seine vergleichenden Forschungen über die Gewaltgeschichte der Sowjetunion wird er von Anhängern einer trotzkistischen Polit-Sekte namens „International Youth and Students for Social Equality“ mit einer Diffamierungskampagne verfolgt. Seine Lehrveranstaltungen werden gestört, man beschimpft ihn als „rechtsradikal“. Diese Denunzianten sind ganz offensichtliche Spinner.
Dennoch hat sich die Führung der Humboldt-Universität sich erst nach langem Schweigen zu ihrem Professor bekannt. Erst beschämend spät nahmen ihn jetzt auch einige Historikerkollegen in Schutz. Vermutlich war dafür der Umstand entscheidend, dass die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ und andere Medien prominent über Baberowskis Fall berichteten und das Landgericht Köln vor wenigen Tagen die Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte feststellte.
Herdentrieb der Ökonomen
Auch in der Wirtschaftswissenschaft ist die Neigung zum akademischen Herdenbetrieb stark. Schon länger und noch ausgeprägter als andere Disziplinen wird die Ökonomik von Paradigmen beherrscht, also von hermetischen Glaubenssätzen, die nicht mehr hinterfragt werden dürfen.
In der gegenwärtigen Ökonomik gehört dazu zum Beispiel das Paradigma von der unbedingten Notwendigkeit und unbeschränkten Machbarkeit von Wirtschaftswachstum. Darüber nachzudenken, ob Wachstum angesichts der ökologischen Beschränkungen und sozialen Folgeschäden in entwickelten Ländern überhaupt länger anzustreben sei, kann man keinem jungen Ökonomen raten, der in der Wissenschaft, der Wirtschaft oder der Politik Karriere machen will.
Abzuraten ist karrierewilligen, jungen Ökonomen aus demselben Grund auch die skeptische Infragestellung des Paradigmas, dass alles wirtschaftliche Handeln rational sei. Dabei belegt schon die Existenz von Spielbanken oder der Verkaufspreis von Rolex-Uhren die Falschheit dieser Grundannahme.
Auch die Behauptung, dass alle Verbraucher danach streben, ihren Nutzen zu maximieren, ist völlig unbelegbar und deswegen nach Karl Poppers „Logik der Forschung“ als unwissenschaftlich entlarvt. Trotzdem ist sie Grundlage der aktuell akzeptierten ökonomischen Theorien.
Es erfordert keine besondere intellektuelle Brillanz, diese und andere ökonomischen Paradigmen zu entzaubern. Das ist auch schon geschehen. Aber die meisten Angehörigen der Ökonomenherde bringen den Mut nicht auf, diesen Widerspruch gegen die mächtigen Leithammel zu vertreten. Denn das bedeutet meist: keine Aussicht auf die renommierte Professur oder den Posten in der Kommission.
Solcher Mut ist von einzelnen Nachwuchsforschern, die viel zu verlieren haben, kaum zu erwarten. Bei verbeamteten Professoren ist das anders zu bewerten: Wer aus intellektueller Trägheit oder Scheu vor schiefen Blicken mit der Herde den Holzweg entlang trabt, verletzt die Wissenschaftsfreiheit. Denn die ist nicht nur ein Recht, sondern auch eine Verpflichtung.
Der Konformitätsdruck in der Wissenschaft und der gesamten Gesellschaft hat viele Ursachen. Nicht zuletzt wohl die korrumpierende Wirkung der Macht, die jedes Paradigma denen verleiht, die die Herde mit dessen Hilfe hüten. Entscheidend für diejenigen, die unter diesem Konformitätsdruck leiden, ist aber: Er nimmt in dem Maße ab, wie die Zahl und die Entschlossenheit der Mutigen steigt, die sich ihm nicht beugen. Feigheit macht Konformitätsdruck erst möglich.
Karl Popper hat nicht zufälligerweise sowohl über die Grundlagen der freien Wissenschaft als auch über die „offene Gesellschaft“ wegweisende Bücher geschrieben. Beides gehört eben zusammen. Und beides ist nichts für Schafe und Feiglinge. Die Worte des Perikles, über die wir als WirtschaftsWoche-Redakteure alltäglich schreiten, und die Popper ausführlich zitierte, waren Teil einer Trauerrede auf Soldaten, die für Athens Freiheit gefallen waren. Sie sind nach 2500 Jahren so aktuell wie damals.