Knauß kontert
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Inflation der Politik

Ferdinand Knauß Quelle: Frank Beer für WirtschaftsWoche
Ferdinand Knauß Reporter, Redakteur Politik WirtschaftsWoche Online Zur Kolumnen-Übersicht: Anders gesagt

Der Koalitionsvertrag ist nicht nur inhaltlich fragwürdig. Sein Umfang und seine Sprache offenbaren einen Entwertungsprozess dieser Art von Politik.

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Schon der Begriff ist eine Anmaßung. Denn der "Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD", der am Mittwoch präsentiert wurde, ist überhaupt kein Vertrag. Vor keinem Gericht kann sich irgendjemand auf das hier Vereinbarte berufen. Das wäre auch unvereinbar mit der Freiheit des Mandats der Bundestagsabgeordneten, die vom Grundgesetz garantiert wird. Es handelt sich um nichts als eine schriftlich festgehaltene Absichtserklärung von Koalitionsparteien.

Dieses Werk auf 177 Din-A-4-Seiten ist, von den konkreten, meist sozialdemokratischen Vorhaben abgesehen, vor allem eins: Dokument des Kraftverlustes der deutschen Politik. Das zeigt nicht nur die Enttäuschung, die der Koalitionsvertrag auf allen Seiten, sowohl bei der Basis der Unionsparteien als auch bei den Sozialdemokraten erfährt. Niemand scheint davon auszugehen, dass dieser Text tatsächlich eine belastbare Antwort auf die politischen Bedürfnisse des Landes ist.

Der inflationäre Charakter dieses Dokuments und damit des gesamten Politikbetriebs wird im historischen Rückblick deutlich. Vor 1961 waren Koalitionsverträge unüblich. Informelle und unveröffentlichte Abmachungen in Form von Briefwechseln genügten den Parteiführern. Was die Regierungen vorhatten, verkündete der Reichs- oder Bundeskanzler in seiner ersten Regierungserklärung vor dem Reichs- bzw. Bundestag.

von Sven Böll, Marc Etzold, Max Haerder, Thomas Schmelzer

1957 schlossen CDU/CSU und Deutsche Partei "Koalitionsvereinbarungen", die nicht veröffentlicht wurden. Der erste schriftliche Koalitionsvertrag, der zwar nicht zur Veröffentlichung bestimmt war, aber dann doch in der Presse landete, war der von 1961 zwischen Union und FDP. Er hatte ganze acht Seiten.

Dieser Umfang blieb über 20 Jahre einigermaßen konstant. Als 1982 Helmut Kohl und Otto Graf Lambsdorff ihre erste Regierungskoalition bildeten reichten ihnen dazu noch 12 Seiten, die vor allem mit Auflistungen im knappen Nominalstil gefüllt sind. Die prosaische Überschrift: "Ergebnis der Koalitionsgespräche".

Welch Wohltat ist diese knappe Sachlichkeit verglichen mit dem Werk der Großkoalitionäre von heute. Das beginnt schon auf dem Deckblatt: Nicht eine, sondern gleich drei Überschriften aus dem Setzkasten der Politik-Lyrik: "Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land." Als Gerhard Schröder und Joschka Fischer 1998 die Epoche sachlich-knapper Vereinbarungen endgültig beendeten, begnügten sie sich immerhin noch mit der kurzen Überschrift "Aufbruch und Erneuerung - Deutschlands Weg ins 21. Jahrhundert" und 55 Din-A-4-Seiten – kaum mehr als die 49 Seiten der letzten "Koalitionsvereinbarung" der Ära Kohl von 1994. Der aktuelle Vertrag ist etwa drei mal so umfangreich.

Der Stoff aus dem diese politische Inflation gemacht ist, ist der gleiche, aus dem auch Währungsentwertungen bestehen: ungedeckte Versprechen ohne Verankerung in der Wirklichkeit - und viel bedrucktes Papier.

Völlig verzichtbar

Völlig verzichtbar wäre zunächst die "Präambel", die allein schon zwei Seiten füllt: eine nur schwer in einem Stück lesbare Zusammenstellung von banalen Feststellungen zur Lage ("Wir erleben neue politische Zeiten mit vielfältigen Herausforderungen für Deutschland"), Selbstversicherungen ("Die Wirtschaft boomt, noch nie waren so viele Menschen in Arbeit und Beschäftigung. Das ist auch Ergebnis der Regierungszusammenarbeit von CDU, CSU und SPD") und großspurigen Versprechen ("Wir werden die Probleme anpacken, welche die Menschen in ihrem Alltag bewegen und setzen uns mutige Ziele für die nächsten vier Jahre"). Wer außerdem erwähnen zu müssen glaubt, dass man "eine stabile und handlungsfähige Regierung bilden" wolle, "die das Richtige tut", scheint selbst nicht sonderlich überzeugt zu sein von diesem eigentlich selbstverständlichen Anspruch, den doch jede Regierung haben sollte.

Aber wenn es nur die Präambel wäre! Auch der Rest des Werkes ist aufgebläht mit endlosen, ermüdend banalen Feststellungen wie: "Unser Wohlstand hängt maßgeblich auch von der Innovationsfähigkeit der deutschen Wirtschaft ab." Ach? Sag bloß, unsere künftig Regierenden haben das auch schon verstanden! Auch diese Erkenntnis hat es in den Vertrag geschafft: "Das Vereinigte Königreich hat sich zum Austritt aus der EU entschlossen". Die Wortwahl ist an unzähligen Stellen von Blähdeutsch geprägt: Zigfach kommen im Koalitionsvertrag "Handlungsansätze" und "Weichenstellungen" und ähnliche Wortungetüme vor. "Maßnahmen" sind meist "weitreichend" und "entschlossen".

Eine hohe Meinung von der politischen Urteilskraft der Leser scheinen die Verfasser nicht zu haben. Sie zeigen sich vielmehr beseelt von dem pädagogischen Willen, einem unmündigen Koalitionsvertragsleser die Welt zu erklären mit Sätzen wie diesem: "Die gleichberechtigte Mitwirkung von Frauen bei der Prävention und Beilegung von Konflikten wird eine wichtige Rolle spielen."

Auf solche Weltdeutungen folgen dann paternalistische Kümmer-Versprechen wie: "Wir lassen ältere Menschen bei der Digitalisierung nicht allein." Der Gipfel der großkoalitionären Fürsorglichkeit steht im Europakapitel: Man wolle, dass "junge Menschen" in Europa "im Austausch mit anderen Freundschaften schließen". Na, das wird die jungen Menschen aber freuen, dass die  Bundesregierung ihnen neue Freunde verschaffen will!

Hätten die Spitzenpolitiker von Union und SPD auf all diese Banalitäten, Betulichkeiten und Belehrungen verzichtet und außerdem ihre Absichtserklärungen auf die wirklich zentralen Fragen beschränkt (statt auch noch einen Kriterienkatalog für die "Entnahme von Wölfen" und die "Absicherung" des "Deutschen Digitalen Frauenarchivs" mit einzubeziehen), so hätten sie sich sicherlich nicht nur den einen oder anderen Verhandlungstag sparen können. Sie hätten auch den fortschreitenden Verlust an öffentlichem Vertrauen in die Problemlösungsfähigkeit der politischen Eliten vielleicht ein wenig bremsen können.

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