Knauß kontert

Die Bildungsökonomie bringt der Bildungsnation Deutschland den Ruin

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Kurzsichtig und verantwortungslos

Dass die pädagogischen Versprechen der Ganztagsschule sich nicht erfüllten, wie mittlerweile klar sein dürfte, hätte man auch vorher ahnen können. Die zeitliche Aufteilung des Unterrichts sagt schließlich nichts über dessen Qualität aus. Die meisten Schulen investierten das viel zu knappe Geld der bulmahnschen Ganztagsinitiative notgedrungen in den Bau von Schulkantinen und die Sanierung von Dächern und Heizungen, wie der Bundesrechnungshof 2006 feststellte.

Pädagogische Ziele – individuelle Förderung, Kreativität, Persönlichkeitsbildung – sind wohl ohnehin nicht das wirklich treibende Motiv der Ganztagsbeschulung: Die Kinder sollen vor allem ihre Mütter und Väter nicht von der Steigerung des Bruttoinlandsprodukts abhalten. Das ist die seit Jahrzehnten in einem anschwellenden Strom immer neuer Auftragsstudien und Alarmschriften transportierte Botschaft der so genannten Bildungsökonomen.

Deren Arbeitgeber, nämlich Wirtschaftsforschungsinstitute und vor allem die OECD und die Bertelsmann-Stiftung sind, wie Kraus in seinem Buch detailreich zeigt, die Antriebsquellen der Reformen. Mit überwältigender publizistischer Feuerkraft und raffinierter lobbyistischer Infiltrationstechnik bestimmen diese Institutionen seit rund 20 Jahren die Richtlinien der Bildungspolitik. Bei der OECD und bei den Bertelsmännern in Gütersloh ist im Übermaß vorhanden, was allen Parteien abhandengekommen ist: Der Wille zur Gestaltung. Und der bedeutet konkret: Alles für die Wirtschaft.

Die Kurzsichtigkeit und Verantwortungslosigkeit dieser Strategie der totalen Mobilisierung der Bildung für ökonomische Zwecke ist vermutlich nur durch die unter zeitgenössischen Ökonomen (und Bildungsökonomen im Besonderen) grassierende historische und kulturelle Ignoranz zu erklären.

Tabu ist in diesen Kreisen die Offensichtlichkeit, dass die Erfolgsgeschichte Deutschlands als Wirtschafts- und Wissenschaftsmacht nicht zuletzt auch eine Ex-Post-Bestätigung für das nun durch den Reformwahn der letzten Jahrzehnte in Trümmer gelegte humboldtsche Bildungssystem ist.

All die Menschen, die in den vergangenen Jahrzehnten und heute noch für Wohlstand in Deutschland sorgten und sorgen, sind schließlich zum Großteil durch jenes System gegangen, das der Urvater der Bildungsreformer, Georg Picht, 1964 als „Bildungskatastrophe“ denunzierte.

Es gibt in der Geschichte wahrscheinlich wenige Beispiele dafür, dass ohne reale Gründe, geschweige denn akuten Notstand, ein Gemeinwesen eines seiner fundamentalen Funktionssysteme auf dem Altar eines abstrakten Fortschrittsprojekts opfert. Die Bildungsnation Deutschland wird von geschichtsblinden Eiferern an die Wand gefahren, die vergessen, dass die Funktionalität der Wirtschaft als soziales System auf all die vordergründig nutzlosen kulturellen Bremsklötze angewiesen ist, die sie eifrig verschrotten, um stattdessen die Höchstgeschwindigkeit zu erhöhen.

Kraus‘ Buch endet nicht resigniert, sondern aufmunternd mit einer Liste von Ratschlägen für Eltern darüber, was sie „trotz allem tun können“. Der bekennende Konservative fordert unter anderem: „Inszenieren Sie Revolten!“

Dass diese durchaus erfolgreich sein können, beweist die Elternbewegung gegen das G8-Gymnasium. In fast allen Bundesländern wurde diese bildungsökonomische Reform mittlerweile ganz oder teilweise zurückgenommen.

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