Knauß kontert

Eltern, lasst eure Schulkinder laufen

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Kutschieren als Geltungsphänomen

Man muss sich das bewusst machen: Polizisten sollen Kinder schützen, und zwar vor Eltern, die diese fahren, weil sie sie – vermutlich – vor irgendetwas schützen wollen. Absurder geht’s kaum.

Irgendwann in der jüngeren Vergangenheit scheint etwas gekippt zu sein. Wer, wie der Autor, in den frühen 1980er Jahren oder davor Grundschüler war, wird sich erinnern, dass damals noch fast alle Schüler, auch Grundschüler zu Fuß oder mit dem Fahrrad zur Schule kamen– meist in kleinen Grüppchen, aber oft auch alleine. Obwohl die Deutschen schon vollmotorisiert waren, war es ein höchst seltenes Privileg, von Mutter oder Vater gefahren zu werden.

Doch dann wurde offenbar das Verhalten der Minderheit zum Verhalten der Mehrheit. Wie ist das zu erklären?

Was wirklich hinter Lernmythen steckt
Bloß nicht mit den Fingern rechnen Quelle: Fotolia
Eine Lehrerin schreibt mit Kreide an die Tafel Quelle: dpa
Schüler mit dem Smartphone auf dem Schulhof Quelle: dpa
Fehler helfen beim LernenWer sich beim Lernen häufig verhaspelt und die Lösung raten muss, lernt trotzdem was. Eine kanadische Studie hat gezeigt, dass die Gedächtnisleistung sogar von den Fehlern profitiert. Dies gilt allerdings nur, wenn die Raterei nicht völlig ins Kraut schießt, sondern nur knapp an der richtigen Lösung vorbei ist. Wer häufig fast richtige Vermutungen anstellt, dem helfen diese wie kleine Brücken beim Erinnern an die korrekte Information. Diesen Vorteil konnten die Forscher sowohl bei jüngeren als auch bei älteren Probanden feststellen. Wer sich selbst herantastet, profitiert davon also mehr, als wenn ihm die richtige Antwort vorgesagt wird. Quelle: Fotolia
Texte wiederholt zu lesen, heißt viel zu lernen Quelle: dpa
Gelerntes erzählen, hilft es sich zu merken Quelle: AP
Hochbegabte sind LernüberfliegerWer einen ungewöhnlich hohen IQ hat, ist in der Schule noch lange kein Überflieger. Weil viele Hochbegabte in der Schule unterfordert sind, markieren sie den Klassenclown und bekommen entsprechend schlechte Noten. Quelle: Fotolia

Bei Eltern scheint sich in wenigen Jahrzehnten oder gar nur Jahren eine völlig übertriebene Angst um ihre Kinder ausgebreitet zu haben. Möglicherweise ist die durch das allgemein steigende Empfinden der Unsicherheit und der Furcht vor Kriminalität in jüngster Zeit noch angeheizt worden. Solche Angst ist außerdem ansteckend und selbstverstärkend: Wenn andere Schüler kutschiert werden, weil deren Eltern um das Wohl der Kinder zwischen Haus und Schule fürchten, bekommen nicht kutschierende Eltern leicht ein schlechtes Gewissen.

Oder ist das Elterntaxi einfach nur ein Nachahmungsphänomen? Soziologen würden das der „Theorie der feinen Leute“ von Thorstein Veblen entsprechend so erklären: Früher kutschierten nur die Reichen ihre Kinder, sei es aus sozialem Dünkel oder um sie vor Entführungen zu schützen. Weil nun aber die Konsumgewohnheiten und Sitten der „feinen Leute“ bekanntermaßen Vorbildcharakter für die nicht ganz so feinen Leute haben, folgen ihnen allmählich die anderen Eltern, um zu signalisieren, dass sie ebenfalls zu den Bessergestellten gehören. Irgendwann in den vergangenen Jahren war dann vermutlich in vielen Schul-Elternschaften eine Situation erreicht, dass diejenigen, die ihre Kinder weiterhin einfach laufen ließen, sich fast wie Asoziale fühlen mussten.

In keiner anderen deutschen Stadt sind die Menschen so schlau wie in Hamburg. Das belegt ein bundesweiter IQ-Test. Wie steht es eigentlich um Ihre grauen Zellen? Machen sie unseren großen Wissenstest.

Vermutlich passen beide Erklärungen ganz gut zusammen: Die Kinder zur Schule zu fahren, dürfte ein „Geltungskonsum“ sein, der durch das Gefühl, sie dabei vor den Gefahren des Schulwegs zu schützen, zusätzlich noch mit einem guten Gewissen angereichert werden kann. Nur die Kinder, um die es eigentlich gehen sollte, haben gar nichts davon.

Sie werden um all die kleinen Abenteuer, Erlebnisse und Beobachtungen gebracht, die der althergebrachte Schulweg zu bieten hatte. Sie verlieren aber auch die Selbstsicherheit, die man – eigentlich banal, aber offenbar nicht selbstverständlich – nur durch selbstständig zurückgelegte Wege erlangt.

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