Knauß kontert Jenseits von guter und böser Handelspolitik

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Moralische Abrüstung erwünscht

Die Geschichte des Freihandels und seiner Moralisierung als politische Maxime beginnt im frühindustriellen England der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Damals war die ökonomische und auch parlamentarische Dominanz der agrarischen Großgrundbesitzer auf Kosten der neuen Klasse der Fabrikanten im Schwinden begriffen. Die „Corn Laws“, die die Einfuhr ausländischen Getreides unterhalb eines bestimmten Preisniveaus komplett verboten, gerieten ab den 1830er Jahren unter Beschuss. England war inzwischen das erste Industrieland der Welt geworden, seine Flotte beherrschte die Weltmeere, seine Industrieprodukte die Handelsplätze.

Die wachsende Bewohnerschaft der Industriestädte drängte auf niedrige Brotpreise durch billiges Getreide aus Russland – und die mächtiger werdenden Unternehmer waren aus naheliegenden Gründen auf ihrer Seite. Dazu kam die in jenen Jahren aufstrebende neue Wissenschaft der Ökonomie, deren prominentester Vertreter David Ricardo war. In ihren Augen versinnbildlichten die Corn Laws alles, was fortschrittsfeindlich und „irrational“ war. Dazu trat als dritte Kraft der Trend zur Moralisierung von Politik im viktorianischen England – betrieben von liberalen Fortschrittsfreunden und christlichen Eiferern mit unterschiedlichen Schwerpunkten aber ähnlicher Verve. Das Ergebnis: Spätestens ab den 1850er Jahren war „Free Trade“ zum parteiübergreifenden Konsens britischer Politik und schließlich zu einem Teil der britischen nationalen Identität geworden. Als größte Kolonial-, See-, Handels- und Industriemacht der Welt konnten britische Regierungen es sich leisten, einseitig Einfuhrzölle abzuschaffen. Was man importierte, machte schließlich ohnehin kaum einem inländischen Produzenten Konkurrenz.

Fazit: Die historische Erfahrung und ein klarer Blick auf die Interessenlagen der Gegenwart sprechen dafür, in der Diskussion über internationale Handelsbarrieren moralisch abzurüsten. Für den Handel gilt, was für die Wirtschaft generell gilt: Er ist kein Selbstzweck, sondern ein Mittel zum Zweck des Wohlstandes der betroffenen Menschen und Gesellschaften. Und wenn man sich vom Glauben an die überzeitliche Gültigkeit von Lehrsätzen wie dem von Ricardo freimacht und die historische Bedingtheit von Wirtschaft akzeptiert (was sehr viele Ökonomen leider ignorieren), dann wird klar, dass Zölle nicht an sich von Übel sind, sondern je nach Lage manchen Interessengruppen mehr oder weniger nutzen - und den anderen mehr oder weniger schaden.

Aus der Wirtschaftsgeschichte, zum Beispiel der jüngeren chinesischen, kann man die Lehre ziehen, dass aufstrebende, aber noch unterentwickelte Volkswirtschaften letztlich gut beraten waren, ihre noch unverzichtbaren alten und noch nicht wettbewerbsfähigen jungen Betriebe zunächst vor den Stürmen des Weltmarktes zu schützen. Je weiter fortgeschritten auf dem Pfad der Industrialisierung sie waren, desto nützlicher waren den jeweils dominierenden kraftstrotzenden Industrien zollfreier Handel und offene Grenzen. Davon profitierten nicht nur die Besitzer, sondern auch die Arbeiter dieser Industrien.

Dass im Exportland Deutschland die Profiteure eines zollfreien Handels in der Mehrheit sind, dürfte unstrittig sein. Für das Importland USA ist die Rechnung nicht so eindeutig. Wie sie ausfällt, testet Trump gerade an der Wirklichkeit. Empörung darüber ist jedenfalls unangebracht. Eigene, deutsche und europäische Interessen gegenüber den USA deutlich zu machen, genügt.

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