Wer nach der Rede der Bundeskanzlerin auf dem jüngsten Bundesparteitag der CDU und dem anschließenden 11-minütigen Klatschkonzert nicht gleich zum Mittagessen verschwand, konnte den kurzen aber höchst bemerkenswerten Auftritt der baden-württembergischen Delegierten Christine Arlt-Palmer erleben. Sie bekundete ihr Unverständnis über die euphorische Stimmung ihrer Parteifreunde und beklagte, „dass wir immer nur verklausuliert sprechen und immer so eine Harmoniesauce über alles gießen und überhaupt nicht mehr in der Lage sind, politische Diskurse zu führen“.
Das kann man leider nicht nur der CDU, sondern weiten Teilen, vielleicht der Mehrheit der politischen Klasse ankreiden. Hier sind wohl auch einige Ursachen für die außerparlamentarische Politisierung weiter Teile der deutschen Gesellschaft zu finden: Die Reflexion über Grundsatzfragen des Gemeinwesens – und was sonst ist denn Politik? – findet innerhalb der Parteien und Parlamente kaum statt. Dass die Öffnung Deutschlands für echte und vermeintliche Flüchtlinge im Herbst 2015 den Bundestagsabgeordneten keine Debatte wert war, ist nur der offensichtlichste Beleg dieses Versagens. Da sucht sich das politische Bedürfnis der Nicht-Abgeordneten notgedrungen andere Kanäle.
Wir werden von Politikern repräsentiert und regiert, die offenbar lieber über die (Un-)Zulässigkeit der Verwendung von Begriffen streiten – zum Beispiel NAFRI, aka „Nordafrikanischer Intensivtäter“ – als über die Wirklichkeit hinter der Sprache. Ganz offensichtlich haben sich in allen Parteien Politprofis etabliert, die zwar unfähig oder zumindest ungeübt für das Führen eines offenen politischen Diskurses sind, aber durch und durch darauf konditioniert, die „Diskurshoheit“ zu verteidigen. Also die Macht über die moralische Wertung der zentralen Begriffe, mit denen dann wiederum das eigene Handeln gerechtfertigt werden kann.
Die Einwanderungsfrage ist nur ein Beispiel für die Unfähigkeit oder den bewussten Unwillen der parteipolitischen Eliten, einen offenen Diskurs über Grundsätzliches zu führen. Eine ungeschriebene aber allseits akzeptierte Spielregel des Politbetriebes scheint festzulegen, dass man jedes große Thema (zum Beispiel Sicherheit) sofort auf betriebsinterne Machtfragen (zum Beispiel den Streit um die Abschaffung der Landesverfassungsschutzämter zu Gunsten des Bundesverfassungsschutzes) herunter zu brechen habe. Wo es um wirklich Politisches und nicht um Machtoptionen, Wahltaktik und Regierungstechnik geht, gähnt in den Parteien die reine Leere.
Das belegt nicht zuletzt die große Frage nach dem Wirtschaftswachstum. Ist es weiterhin unbedingt wünschenswert und machbar? Die Frage stellen sich immer mehr Menschen – an Universitäten und nicht nur da. Die Stimmen werden immer lauter, die Wirtschaftswachstum als Zweck der Politik in Zweifel ziehen, und die Grenzen der ökologischen und anderer Wachstumsbedingungen für erreicht halten.
Und die ökonomische Wirklichkeit gibt ihnen Recht: Wohlstandszuwächse gibt es in den Industriegesellschaften für die Mehrheit der Menschen nicht mehr; der Welthandel stagniert ebenso wie die Produktivität; selbst in den Schwellenländern gibt es nur noch geringe Zunahmen des Bruttosozialprodukts. Rekorde erzielen nur noch die Schuldenstände. Und dass die natürlichen Lebensgrundlagen durch weiteres Wachstum noch mehr zerstört werden als ohnehin schon, können nur Öko-Ignoranten wie Donald Trump oder hierzulande die Träumer vom „Grünen Wachstum“ ausblenden.
Politische Positionen verkümmern im Parteienbetrieb
Was all dies bedeutet für unser Land, Europa und die Welt im frühen 21. Jahrhundert, wird viel diskutiert. Nur dort, wo Antworten auf politische Fragen gegeben und umgesetzt werden sollten und könnten, spielt es keine große Rolle. Zu diesem recht deprimierenden Ergebnis kommt eine Forschergruppe des „Institute for Advanced Sustainability Studies“ (IASS) in Potsdam mit ihrem Projekt „Growth in Politics“.
Vor einigen Jahren schien sich das noch zu ändern. Der Bundestag hatte eine Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“ eingesetzt. Die hatte trotz erheblicher Dissonanzen 2013 immerhin zu dem parteiübergreifenden Konsens gefunden, dass Wirtschaftswachstum niemals politisches Ziel an sich sein solle, sondern nur ein Mittel zur Erreichung anderer Ziele sein könne. Dem hatten sogar Anhänger einer konsequenten Wachstumspolitik wie Karl-Heinz Paqué zugestimmt.
Doch dieser kleinste Nenner des Nachdenkens über Wirtschaftswachstum und Politik spielt im diskursiven Alltag des Bundestages keine Rolle. Die Forscher des IASS um Manuel Rivera stellten bei der computergestützten Analyse von 120 Bundestagsdokumenten der 18. Legislaturperiode (also seit der Wahl von 2013) fest: „Wachstum als Politikziel wird … meist … dadurch indirekt affirmiert, indem erklärt wird, welche Faktoren zu Wachstum beitragen oder dafür notwendig sind (z.B. Investitionen, Forschung oder ein ausgeglichener Haushalt) – ohne dass dieses Wachstum seinerseits einem weiteren Zweck zu- bzw. untergeordnet würde.“ Die zweithäufigste Methode, Wachstum als Zweck zu etablieren, ist laut IASS-Studie: „Wachstum in einem Atemzug mit anderen Politikzielen zu nennen, z.B. in der überaus populären Formel‚ Wachstum und Beschäftigung.“
Das dauernde Mitschleifen des Wachstums in Regierungserklärungen und anderen Verlautbarungen verhindere „jede Thematisierung seiner Prämissen, jede Argumentation dafür oder dagegen“. „Das Wachstum als Dogma …, also als eine immer mitgeschleifte, nicht mehr kritisierte Behauptung, dominiert den parlamentarischen Diskurs.“ Religionshistoriker könnten bestätigen: Durch Rituale und Formeln werden Dogmen geboren.
Erst wenn man den Abgeordneten und ihren Mitarbeitern näher rückt – die IASS-Forscher haben 17 Abgeordnete und über 200 Mitarbeiter interviewt – werden „Quellen der Reflexivität“ offenbar. In deren anonymisierten Antworten entdecken Rivera und seine Kollegen „ein unausgeschöpftes Reservoir von postmaterialistischen Wohlstandsauffassungen und entsprechenden Einschränkungen und Qualifizierungen von Wachstum“. Anders gesagt: Die Angehörigen des politischen Betriebs reflektieren durchaus grundsätzliche Fragen – allein das hat kaum Auswirkungen auf ihre Arbeit. Politische Positionen gedeihen also nicht etwa im real existierenden Parteienbetrieb, sondern verkümmern durch ihn.
Oder wie einer der Befragten, ein Wirtschaftspolitiker der Koalitionsparteien, sagt: „Gruppen streben immer nach einfachen, nach auch gemeinschaftlichen Wahrheiten, geben sich auch oft Selbstwahrheiten, und das ist in Gruppen wie Parteien oder Fraktionen nicht anders.“ Von dieser deprimierenden Feststellung ist es dann nicht weit bis zum Verständnis für ein 11-minütiges Klatschkonzert für eine Parteivorsitzende, an der die Klatscher in nichtöffentlichen Gesprächen kaum ein gutes Haar lassen.
Und wo ist der Ausweg aus diesem Parteiengefängnis für das politische Urteil? Was könnte die Reflexivität und Diskursfreude von Politikern wieder aufleben lassen? Wie kann neues politisches Denken in einem denkfeindlichen Politikbetrieb entstehen?
Rivera und Kollegen konnten feststellen, dass „neue Konsense“ in der Nachhaltigkeitspolitik über Parteigrenzen hinweg in einem Gremium entstanden, das über keinerlei Entscheidungsgewalt verfügt: nämlich im Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung. Die Schwächung von Machtstrukturen, die Konformismus erzeugen, dürfte eine Voraussetzung für die Freisetzung politischer Denkfreude sein. In den Unionsparteien erinnern sich derzeit auch wieder ältere Mitglieder an die erfrischenden Programmdiskussionen in den 1970er Jahren – nach dem ersten Machtverlust auf Bundesebene.