Knauß kontert

Alte Politik-Rezepte für neue Probleme

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Probleme der Gegenwart

Die Probleme der Gegenwart sind eben keine Variationen der Krisen des 20. Jahrhunderts. Sie sind zwar – selbstverständlich – nur mit historischer Perspektive verstehbar, aber aus der jüngeren Vergangenheit sind keine Blaupausen zu entnehmen, wie ihnen zu begegnen wäre. Politisches Erfahrungswissen ist weitgehend wertlos geworden. Im Gegenteil: Die Antworten des alten Jahrhunderts dürften die neuen Probleme der westlichen Gesellschaften im 21. Jahrhundert eher noch verschärfen.

Die ökologischen, ökonomischen, sozialen und menschlichen Begrenztheiten werden immer offensichtlicher. Sie zu ignorieren führt zu immer größeren Verspannungen und Konflikten: Wirtschaftswachstum voranzutreiben, von dem nur eine kleine, ohnehin schon extrem reiche Minderheit profitiert, überfordert immer weitere Bevölkerungsschichten und – das ist das wichtigste – die natürlichen Lebensgrundlagen. „Machen wir so weiter, laufen wir gegen Wände“, stellt Meinhard Miegel fest. 

   

Produktive Gesellschaften haben Fachkräftemangel

Die gefährliche Dynamik der neuen, historisch beispiellosen Konflikte, die die Politik mit alten, scheinbar historisch bewährten Antworten eher verschärft als mildert, äußert sich am deutlichsten in der Demografie.  Selbst wenn die Zunahme der Weltbevölkerung bis zur Mitte dieses Jahrhundert aufhören sollte, wie es die meisten Demografen erwarten, so bleibt doch das große Ungleichgewicht der Reproduktionsraten bestehen: die weitere Steigerung der Produktivität in den früh industrialisierten Ländern wirkt ganz offensichtlich negativ auf deren Reproduktivität. Gesellschaften, die Menschen in den Dienst der Wirtschaft stellen, statt die Wirtschaft in den Dienst der Menschen, sterben aus. Oder um es in die entmenschlichende Sprache der Ökonomen zu übersetzen: Sie leiden unter Fachkräftemangel. Die unproduktivsten Gesellschaften dagegen sind höchst reproduktiv.

Damit sind wir bei der Einwanderung und der Frage der staatlichen Souveränität über die Grenzen. Auch hier handelt die hergebrachte Politik, vor allem in Deutschland, nach der Devise: Alte Rezepte des 20. Jahrhunderts  für völlig neue Problemlagen im 21. Jahrhundert.

Die Erfahrung der Weltkriege und damit verbundenen Weltwirtschaftskrisen lies die Überlebenden in Europa eine naheliegende Lehre ziehen: Nationale Grenzen sind zum Überwinden da. Das Wort hat einen Beigeschmack des Unanständigen für jeden „guten Europäer“.

Schlagbäume einzureißen, Grenzen zu „überwinden“ war jahrzehntelang, in jener zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die wohl als glücklich in die Geschichte eingehen wird, ein gutes Werk. Aber das  Jahr 2016 hat nun allzu offensichtlich gezeigt, dass die Abschaffung der Kontrolle über die eigenen Landesgrenzen unter den Bedingungen des frühen 20. Jahrhunderts  eben keine Garantie für das Glück aller Menschen ist.

Die kurze Lebensgeschichte des Anis Amri macht deutlich:  Unser Staat, seine Behörden und vor allem seine politisch Verantwortlichen sind auf Bedingungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingestellt. Sie sind eingestellt auf Bürger, die angesichts der Leidenserfahrungen und Schuld ihrer Ahnen eine Kultur der Friedfertigkeit und der Ökonomisierung aller Interessenskonflikte verinnerlicht haben. Auf Bürger mit festen Wohnsitzen, geregelten Arbeitsverhältnissen, gültigen Steuernummer, gültigen KFZ-Kennzeichen und gültigen Ausweispapieren. Kurz: auf Menschen, die etwas zu verlieren haben, in einer Wohlstandsgesellschaft, die umgeben ist von ganz ähnlichen, europäischen Wohlstandsgesellschaften eingerichtet. Unter solchen Voraussetzungen, konnte man die Schlagbäume an den Landesgrenzen einreißen und die Mannschaftsstärke bei Polizei und Militär abbauen – und stattdessen wahlweise den Sozialstaat ausbauen oder weiteres Wirtschaftswachstum ankurbeln.

Amri und einige andere Zuwanderer, die man gerne für schutzbedürftige Flüchtlinge halten wollte, haben nun gezeigt, dass diese Bedingungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mehr bestehen.  Der Erzwingungsapparat der alten Bundesrepublik ist auf Falschparker und Steuerhinterzieher eingerichtet, aber nicht auf Menschen wie Amri, die nicht die geringsten Skrupel haben, die Lücke zwischen Gesetzen und ihrer Erzwingung auszunützen. Mit dem Bekanntwerden  der Details aus Amris letzten Lebensjahren in Deutschland ist der Glaube, auf Gewaltmittel des Staates zur Sicherung des inneren Friedens verzichten und sie durch Sozial- und Konjunkturpolitik ersetzen zu können, zerplatzt.

Was sind die neuen, zeitgemäßen Rezepte für die Probleme des 21. Jahrhunderts? Niemand weiß das genau. Aber es gibt ein Regelsystem, das Finden von Antworten und den Streit darüber auf friedliche Weise ermöglicht.  Die „offene Gesellschaft“ , die derzeit so oft beschworen wird, zeichnet sich dadurch aus, dass sie eben nicht festgelegt ist auf einen bestimmten Weg in eine vorgegebene Zukunft. In ihr wird um Wahrheiten und politische Maßnahmen gestritten und abgestimmt. Nichts ist in einer offenen Gesellschaft alternativlos – außer der Geltung der Gesetze. Eine Politik, die früher richtig und allgemein akzeptiert war, kann in ihr morgen falsch und inakzeptabel werden. Das gilt erst recht für Parteien und Politiker.

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