Knauß kontert

Andrea Nahles und Flüchtlinge, die keine sind

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Undifferenziertes Gerede, Ökonomisierung des Themas

Offensichtlich macht man es sich in Kabinett und Ministerien genauso einfach wie in den meisten deutschen Redaktionen. „Flucht“, „Flüchtlinge“ oder „Geflüchtete“ sind zu ebenso nebulösen wie euphemistischen Wieselwörtern geworden, die unterschiedslos alle Zuwanderer umfassen, die man in den USA als „illegale Immigranten“ bezeichnen würde. Längst haben Politiker, Beamte und Journalisten aufgegeben, in ihren Äußerungen die Zuwanderer nach ihrem formalen juristischen Status – subsidiärer Flüchtlingsschutz, Asyl, anerkannt, abgelehnt, geduldet – zu unterscheiden. Und erst Recht nicht unterscheidet man nach den allzu offensichtlichen tatsächlichen Motivationen der Zuwanderer – in den wohl allermeisten Fällen: die Suche nach mehr materiellem Wohlstand oder einem Leben ohne Krieg und Elend, und in bekanntermaßen nur sehr wenigen Fällen: die Suche nach Schutz vor individueller politischer Verfolgung. Alle sind einfach Flüchtlinge. Für Spiegel-Online sind zum Beispiel auch Afrikaner, die versteckt in Güterzügen aus Italien nach Deutschland einreisen auf der „Flucht“. Vor was fliehen sie aus Italien? Vielleicht vor den vergleichsweise bescheidenen Versorgungsmöglichkeiten des italienischen Staates?

Das undifferenzierte Gerede und Geschreibe über „Flüchtlinge“ und „Flucht“ hat der deutschen Sprache großen Schaden zugefügt. Sie war einmal gerühmt für ihre Exaktheit. Das ist auf dem wohl wichtigsten Politikfeld der Gegenwart nun nicht mehr der Fall. Zufrieden kann damit nur sein, wer an einem sachlichen, lösungsorientierten und von falscher Sentimentalität befreiten Diskurs über Einwanderungsfragen nicht interessiert ist.

Man mag hier ein raffiniertes kommunikativ-administratives Kunststück erkennen: Eine de facto unkontrollierte Zuwanderung, die zu regeln, also zu begrenzen, der deutschen Politik zu unbequem ist, weil dies gewisse Härten, hässliche Bilder und entsprechende persönliche Verantwortung der Regierenden mit sich brächte, wird zunächst kommunikativ als „Flucht“ umverpackt. Zweck: Die eigene Feigheit vor der politischen Entscheidung durch Moralisierung kaschieren. Im Zweifelsfall ist der deutschen Öffentlichkeit ohnehin eine sentimentale Moral-Debatte mit klarer Schwarz-Weiß-Trennung der Guten und Bösen lieber als ein kühler politischer Interessendiskurs in Grautönen.

Im nächsten Schritt geht man dann von der kommunikativen Moralisierung zur administrativen Ökonomisierung des Themas über. Der eingangs zitierte Nahles-Satz ist eben nicht nur wegen des fragwürdigen Wieselwortes Flüchtling bezeichnend, sondern vor allem durch die direkte Verbindung des Flucht-Narrativs, also einer ethischen Kategorie, mit einer Maßnahme der Arbeitsmarktpolitik.

In Wirtschaftsthemen fühlen sich die Deutschen und ihre Politiker seit 1945 wohler als auf anderen, möglicherweise für vermint gehaltenen Feldern wie Grenzsicherung oder Abschiebung. Also werden durch Maßnahmen wie den Wegfall der Vorrangprüfung aus abgelehnten Asylbewerbern, die nach politischen Maßstäben eigentlich abgeschoben werden müssten, entweder Arbeitnehmer oder (viel häufiger) Objekte sozialstaatlichen Fürsorgemanagements.

So kann die deutsche Politik mit gefühligen Worthülsen und administrativem Eifer den Mangel an eigener Gestaltungskraft für die größte Herausforderung der Zeit verschleiern.  

 

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