Jetzt muss sogar schon Henry Kissinger herhalten, genauer gesagt der ihm zugeschriebene berühmte Satz über die Unübersichtlichkeit Europas, um die Unübersichtlichkeit der deutschen Regierungsbildung zu illustrieren: „Wenn wir momentan in der Union anrufen wollten, wüsste ich nicht auf Anhieb sicher, welche Telefonnummer ich wählen soll“, bekannte vor Kurzem der FDP-Fraktionsvize Stephan Thomae.
Steht nun die Ampelkoalition unter SPD-Führung für Aufbruch in Deutschland? Oder vielleicht doch Jamaika mit der Union – trotz des internen Machtkampfes? Darüber gibt es durchaus unterschiedliche Ansichten bei Liberalen und Grünen, je nach persönlichen und programmatischen Vorlieben. Doch auch wenn eine rot-grün-gelbe Koalition unter Führung von Olaf Scholz derzeit als wahrscheinlicher gilt: Unter beiden kleineren Partnern gibt es wichtige Fürsprecherinnen für eine Jamaikakoalition. Nicht zuletzt aus taktischen Gründen.
Denn, so der Gedanke, würde sich die Union nicht schnell sortieren und stattdessen weiter in internen Querelen verlieren, wäre sie wohl gar nicht koalitionsfähig. Dann wäre eine Ampel für Liberale und Grüne plötzlich alternativlos, das Druckmittel Jamaika futsch, wohingegen Scholz eine innerlich geschwächte Union später noch immer mit staatspolitischer Verantwortung in eine neue große Koalition drängen könnte.
Allein schon deswegen geht bei den öffentlich so selbstbewussten zwei Juniorpartnern, die zuerst untereinander sondierten, eine gewisse Sorge um: dass die Union im Machtpoker ausfiele und in der Folge weniger der eigenen Herzensanliegen in einen Koalitionsvertrag Eingang fänden könnten. Anders gesagt: Kippt Armin Laschet, könnte Scholz am Ende brutal durchverhandeln.
Ein Liberaler aus dem engeren Führungskreis sagt: „Die Jungen bei uns können sich die Ampel sehr gut vorstellen, die Älteren weniger. Das ist eine Generationenfrage.“ Die Jüngeren stünden den Grünen kulturell näher. Am Ende sprächen die Nachwuchsleute ein ähnliches Publikum an, bürgerlich-liberale Menschen, die in Großstädten lebten – oft seien Wähler von Grünen und FDP sogar in denselben Familien zu finden.
Beim Klimaschutz seien die Liberalen aber näher an der Union, gerade wenn es darum gehe, wie dieser enorme Umbau bewerkstelligt werden solle. Klimaneutralität dürfe nicht durch Verbote erreicht werden, skizzieren Liberale, sondern müsse als „Exportschlager für Deutschland“ verstanden wissen. Entsprechend sollten die Fähigkeiten von Ingenieurinnen und Unternehmern angereizt und genutzt werden.
Aber, bringt es ein anderer FDPler auf dem Punkt: „Jamaika wird nur gut, wenn wir die Ampel in der Hinterhand haben – und andersherum.“ Was aber, wenn nach dem ersten anstehenden Wochenende der Sondierungen sehr schnell klar würde, dass es nicht zwei Wege zum Ziel Regierungsbildung gäbe?
Auch bei den Grünen gibt es zwei Lager, die für ein Sondieren mit und für ein Annähern an die Union plädieren. Die einen aus den beschriebenen taktischen Erwägungen, die anderen vor allem wegen der Inhalte. Immer geht es auch hier vor allem um den Klimaschutz, den nicht nur Vertreterinnen der Ökopartei für die Kern- und Querschnittsaufgabe jeder nächsten Bundesregierung halten.
Die erste Gruppe unter den Grünen misstraut dem Gewicht, das die eigene Parteiführung zusammen mit der FDP gegen Scholz aufbringen kann, wenn es keine ernsthafte Gegenoption für eine Regierung gibt. In Hamburg habe die SPD außerdem zusammen mit Scholz schon einmal die Grünen über den Tisch gezogen. Die Sozialdemokraten hätten den Grünen damals zu verstehen gegeben, dass es völlig unwichtig sei, wieviel Gewicht die Ökopartei in ein Bündnis einbringe. Die SPD habe andere Regierungsoptionen, die Grünen nicht. Danach sei der Einfluss auf Themen der eigenen Leute zusammengeschrumpelt und sei für die Ökopartei weit unter Wert ausgegangen.
Doch es gibt auch programmatische Gründe, weshalb manche Grüne die marktwirtschaftlich ausgerichtete Union eher als Wunschpartnerin sehen. Der lauteste Fürsprecher dieser Gruppe ist der Ministerpräsident Baden-Württembergs, Winfried Kretschmann. Kretschmann ist erprobter Koalitionsverhandler und war zudem bei der Verschärfung der Klimaschutzregeln dabei, die zwischen der bisherigen Bundesregierung und den Ländern im Bundesrat ausgehandelt worden war. Beim höheren CO2-Preis sei die Union bereits auf Forderungen der grün mitregierten Länder eingeschwenkt und habe in diesem langfristig marktwirtschaftlichen Instrument große Chancen für Innovationen aus der Wirtschaft gesehen, heißt es bei den Grünen.
Scholz hingegen habe sich bis zuletzt vehement dagegen gesperrt. Baden-Württemberg wird zudem von Grün-Schwarz regiert, und in der Stuttgarter Staatskanzlei erhoffen sie sich Unterstützung von einer ähnlich gefärbten Regierung im Bund, wenn es um den Umbau traditioneller Industriezweige geht.
Innerhalb der Grünen, vor allem jenen im Bund, überwiegt dennoch die Neigung, sich auf eine Ampel als Ziel zu konzentrieren. Die SPD stünde ihnen inhaltlich näher als die Union und sei besser sortiert. Letzteres geben übrigens auch manche in der FDP unumwunden zu – mal offen, mal zerknirscht. Es kommt eben auf die Perspektive an.
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