Koalitionsverhandlungen Union und SPD vor der „Stunde der Wahrheit“

Nun aber wirklich: Die letzte Runde der Koalitionsverhandlungen läuft. Eine weitere Verlängerung werden sich Union und SPD nicht leisten können.

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Berlin Die Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD sind am Dienstag in die Schlussrunde gegangen. Nach zwei Verlängerungen machten beide Seiten am Vormittag klar, dass bis zu einer Entscheidung durchverhandelt werde. SPD-Chef Martin Schulz sprach vor den Beratungen in der Berliner CDU-Zentrale vom „Tag der Entscheidung“. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt betonte: „Alle sind jetzt gefordert, sich aus ihren Schützengräben rauszubewegen, Eingraben geht jetzt nicht mehr. Die Stunde der Wahrheit naht.“

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) mahnte alle Seiten zu Kompromissbereitschaft: „Jeder von uns wird schmerzhafte Kompromisse noch machen müssen. Dazu bin ich auch bereit, wenn wir sicherstellen können, dass die Vorteile zum Schluss die Nachteile überwiegen.“ Es gehe darum, mit einer verlässlichen Regierung die Voraussetzungen dafür zu schaffen, „dass wir morgen auch noch in Wohlstand und in Sicherheit im umfassenden Sinne leben können“. Dieses Ziel dürfe man gerade in unsicheren Zeiten nicht aus den Augen verlieren.

Merkel nannte drei Knackpunkte, um die es am Dienstag noch gehen werde: Gesundheit, Arbeitsmarkt und „internationale Verlässlichkeit“. Mit letztem Punkt sind die Ausgaben für die Bundeswehr und die Entwicklungshilfe gemeint. Die Union will sich bei den Verteidigungsausgaben dem Nato-Ziel von zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts nähern (derzeit 1,2 Prozent). Für die SPD hat dagegen Priorität, 0,7 Prozent in die Entwicklungshilfe zu stecken (2016: 0,52 Prozent). Es wird deshalb erwartet, dass die in der Sondierungsvereinbarung vorgesehenen zwei Milliarden Euro zusätzlich für Entwicklung und Verteidigung aufgestockt werden.

Die größten Streitpunkte liegen aber in der Gesundheits- und Arbeitsmarktpolitik. Die SPD dringt auf Maßnahmen, um eine Ungleichbehandlung von Privat- und Kassenpatienten abzubauen und will die sachgrundlose Befristung von Arbeitsverhältnissen einschränken. Die Führung der Sozialdemokraten will mit Erfolgen in diesen beiden Punkten bei ihren Mitgliedern für ein Ja zum Koalitionsvertrag werben.

Denn die mehr als 440.000 SPD-Mitglieder haben das letzte Wort, wenn die Koalitionsvereinbarung zustande kommt. Am Dienstag um 18.00 Uhr sollte die Frist für die Aufnahme von Mitgliedern auslaufen, die noch an der Abstimmung teilnehmen können.

SPD-Chef Schulz zeigte sich zuversichtlich, dass es zu einer Einigung mit der Union kommen werde. „Ich habe guten Grund anzunehmen, dass wir heute zu Ende kommen werden, ich hoffe in einem positiven Geist, mit einem guten Ergebnis für unser Land“, sagte er. Es gehe darum, in einer der größten Industrienationen der Welt eine stabile Regierung zu bilden, die den nationalen und internationalen Herausforderungen gerecht werde.

Die Verhandlungen zwischen CDU, CSU und SPD sollten eigentlich schon am Sonntag abgeschlossen werden, mussten dann aber zwei Mal verlängert werden. Schulz verteidigte dieses Vorgehen. „Wir sehen heute, dass wir gut beraten waren, uns Reservetage einzuräumen“, sagte er. Auch für die Unionsparteien, die aufs Tempo gedrückt hatten, sei das ersichtlich geworden, „weil man eine seriöse Grundlage bilden will für die zukünftige Regierung“.

Es wurde mit Verhandlungen bis in die Nacht gerechnet. Nach parteiinternen Vorbesprechungen wollte ab 11.00 Uhr die Runde der 15 Chef-Unterhändler von Union und SPD tagen. Die große Runde mit 91 Teilnehmern sei gebeten worden, sich grundsätzlich ab 16.00 Uhr bereitzuhalten – auch wenn sich der Beginn dann tatsächlich in den späten Abend oder auch bis tief in die Nacht hinein ziehen könnte, hieß es.

Ein Scheitern der Verhandlungen galt als äußerst unwahrscheinlich, Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) schloss es aber nicht aus. „Ich schließe überhaupt nichts aus“, sagte er. Bouffier sprach von einem „harten Ringen“. Er halte eine Einigung für möglich. „Aber ob es gelingt, ist unsicher.“

Union und SPD wollen in der Schlussphase auch die Ressortverteilung in einer neuen Bundesregierung erörtern. Eine Entscheidung über Personalien ist nach Angaben der Sozialdemokraten aber noch nicht zu erwarten. „Die Personalfragen kommen einfach später, das ist nichts, was heute ansteht“, sagte der Parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Carsten Schneider, im ARD-„Morgenmagazin“.

Zur Frage, wann SPD-Chef Schulz Klarheit über einen möglichen Wechsel ins Kabinett schaffen wird, wollte sich Schneider nicht äußern. „Ich werde mich an dieser Diskussion nicht beteiligen“, sagte er. In der SPD gibt es Forderungen, die Parteispitze solle direkt nach der Vorlage eines Koalitionsvertrages und damit vor dem Mitgliederentscheid klarmachen, wer für die Sozialdemokraten ins Kabinett geht. Schulz hatte nach der Bundestagswahl im September ausgeschlossen, als Minister unter Kanzlerin Merkel zu arbeiten.

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