




Die politische Botschaft ist in blühende Prosa über einen zufrieden im Rollstuhl in der Frühlingssonne sitzenden Altkanzler verpackt, aber sie hat es in sich. Anlässlich seines 86. Geburtstags am Sonntag (3. April) gewährte Altbundeskanzler Helmut Kohl (86) seinem langjährigen Vertrauten, „Bild“-Herausgeber Kai Diekmann, Zugang zu seiner Terrasse in Ludwigshafen-Oggersheim und zu seinen Gedanken über die Flüchtlingskrise.
Und so beschreibt der Journalist nicht nur ausführlich den nach mehreren Operationen angegriffenen Gesundheitszustand des CDU-Politikers, sondern er transportiert auch eine Nachricht, die man als Kampfansage Kohls an Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) lesen kann: Kohl wolle sich mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán treffen.
Orbán ist der wohl entschiedenste Gegner Merkels in der europäischen Flüchtlingskrise und für viele Anhänger der Kanzlerin ein politisch Unberührbarer. Schon der Besuch von CSU-Chef Horst Seehofer bei Orbán in Budapest Anfang März hatte für Unruhe im Merkel-Lager gesorgt. Dabei versicherten beide Politiker, sie betrieben mitnichten den Sturz der Kanzlerin.
Das ist Viktor Orbán
Viktor Orbán, 1963 geboren, wuchs in bescheidenen Verhältnissen in einem Dorf bei Szekesfehervar - 70 Kilometer südwestlich von Budapest - auf. Im ländlichen Umfeld seiner Kindheit galt er als schwer erziehbar.
Als Jurastudent in der Hauptstadt Budapest rebellierte Orbán mit Gleichgesinnten gegen den geistlosen Obrigkeitsstaat im späten Kommunismus. Der Fidesz, den er mitbegründete, war die erste unabhängige Jugendorganisation dieser Zeit.
1998 übernahm Orbán erstmals die Regierungsgeschäfte. Mit 35 Jahren war er damals der jüngste Ministerpräsident der ungarischen Geschichte.
Als Orbán 2002 überraschend die Wahl und damit die Regierungsmacht verlor, wollte er sich damit nicht abfinden. Er ließ seine Anhänger aufmarschieren und reklamierte auf "Wahlbetrug". Die regierende Linke setzte der Oppositionsführer immer wieder mit Straßenkundgebungen und Volksabstimmungen unter Druck.
Die Wahlen im Frühjahr 2010 brachten Orbán die langersehnte Rückkehr an die Macht, noch dazu mit der verfassungsrelevanten Zweidrittelmehrheit für seine Fidesz-Fraktion.
Nach seiner Rückkehr sprach Orbán umgehend von einer "Revolution der Wahlkabinen" und von der Ankunft eines neuen "Systems der nationalen Zusammenarbeit".
Das bedeutete in der Praxis die Aushöhlung demokratischer Institutionen. Kritiker zufolge ordnet Orbán seine ganze Politik seinen Machtbedürfnissen unter. So würden auch die kürzlich verabschiedeten Verfassungsänderungen vor allem dazu dienen, dass Orbán noch mehr schalten und walten kann, wie er will.
Für die nächsten 15 bis 20 Jahre, so erklärte Orbán vor Partei-Intellektuellen, müsse "ein einziges politisches Kraftfeld die Geschicke der Nation bestimmen".
Nun also Kohl. Zu den Umständen des geplanten Treffens mit Orbán äußert sich der Altkanzler nicht. Es ist zu vermuten, dass der ungarische Premier Kohl in dessen Privathaus in Ludwigshafen-Oggersheim besuchen wird. Dort hatte Kohl, wie er ebenfalls in dem „Bild“-Interview verrät, auch schon den kroatischen Außenminister Miro Kovac empfangen, ebenfalls ein Verfechter einer rigideren Flüchtlingspolitik.
Wie ist das angekündigte Treffen Kohls mit Orbán zu werten? Der Altkanzler ist zwar Privatier, aber gerade in europäischen Fragen noch ein beachteter Richtungsgeber innerhalb der Union. Er schätze Orbán als „Europäer mit Herzblut“. Auch sei er unglücklich über den aktuellen Zustand der europäischen Politik, schüttele nur den Kopf über den Konflikt zwischen CDU und CSU, wird seine Position beschrieben.
So kann man auch den Teil eines Buchbeitrags als durchaus brisant empfinden, den Kohl vorab zur Veröffentlichung freigegeben hat. Darin schreibt der „Ehrenbürger Europas“: „Einsame Entscheidungen, so begründet sie dem Einzelnen erscheinen mögen, und nationale Alleingänge müssen der Vergangenheit angehören. Sie sollten im Europa des 21. Jahrhunderts kein Mittel der Wahl mehr sein, zumal die Folgen von der europäischen Schicksalsgemeinschaft regelmäßig gemeinsam getragen werden müssen.“ Der Text soll in einem Buch anlässlich der Verleihung des Aachener Karlspreises an Papst Franziskus Anfang Mai erscheinen.
Die vorab veröffentlichten Sätze lesen sich wie die häufiger aus Unionsreihen zu hörende Kritik an Angela Merkels Entscheidung vom 5. September vergangenen Jahres, als die Kanzlerin die Grenzen öffnen ließ, um in Ungarn festsitzende Flüchtlinge nach Deutschland einreisen zu lassen. Bis heute wird dieser Tag von vielen in der Union als einsame Entscheidung und Beginn des Kontrollverlusts gegeißelt, während Merkel-Anhänger ihn als humanitäre Entscheidung verteidigen.
In Verbindung mit dem Besuch Orbáns könnten Kohls Zeilen die nach dem jüngsten Brüsseler Flüchtlingsgipfel abgeebbte innerparteiliche Diskussion um Merkel erneut anfachen. Zwar will Kohl den Beitrag als Ausnahme verstanden sehen, lediglich der „Sorge um Europa geschuldet“. Kohl ist jedoch immer noch politischer Profi genug zu wissen, dass er in der Flüchtlingskrise ein zumindest interpretierbares Zeichen setzt.