Kommentar zum mutmaßlichen Anschlag in Berlin Nagende Ungewissheit

Die Tat ist noch nicht aufgeklärt, ein Ziel der mutmaßlichen Täter ist klar: Ein Klima der Angst und Überreaktionen von Politik und Gesellschaft. Doch das Gefühl von Hilflosigkeit ist kein guter Ratgeber. Ein Kommentar.

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Die Angst ist das Ziel. Der mutmaßliche Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz wird die Ängste in der Bevölkerung schüren. Quelle: dpa

Berlin Auch mehr als zehn Stunden nach der Tragödie an Berlins Kaiser-Gedächtnis-Kirche ist noch immer endgültig geklärt, ob es ein schrecklicher Unfall oder ein Anschlag war, der auf dem dortigen Weihnachtsmarkt zwölf Tote und mindestens 49, zum Teil schwer Verletzte forderte. Es ist eine Schneise der Verwüstung, die der Lastwagen mit Kennzeichen aus dem polnischen Gryfino nicht nur auf dem Berliner Breitscheidplatz reißt. Und die Berliner Polizei spricht von „einem vermutlich terroristischen Anschlag“.

Wenn es tatsächlich ein bewusster Anschlag war und kein tragisches Unvermögen eines Lkw-Fahrers, dann ist es genau das, was der mutmaßliche Täter erreichen wollte: Viel mehr als die konkreten Toten und Verletzten, sondern ein Zermürben in Millionen Köpfen, ein Klima der Angst und eine Überreaktion von Politik und Gesellschaft, die im Nachhinein eine solche Tat rechtfertigt.

Es sind diese schrecklichen Nachtstunden, die Angst im Dunkeln, die düsteren Gedanken, die ausgelöst werden sollen. Ob nach den Schüssen in München, den verheerenden Mordattacken in Paris oder jetzt in Berlin: Die Stunden der Ungewissheit, die einen ruhelos zurücklassen, ob es tatsächlich ein terroristischer Anschlag war und, wenn ja, ob nun weitere folgen. Diese Unruhe, diese Angst, dieses In-sich-Gehen, ob ich morgen noch so frei, unbekümmert und sorgenfrei leben kann wie gestern, ist es, mit denen Terroristen uns fangen wollen. Sie wollen uns ihr Denken durch ihr Händeln aufzwingen, uns zu einem Leben nach ihrer perversen Logik aufdrängen.

Zugegeben, auf Weihnachtsmärkte kann ich zumindest leicht verzichten. Aber kann und will ich es auf Konzerte, auf Stadionbesuche, auf alle öffentlichen Veranstaltungen? Und soll ich Verwandten und Freunden nun raten, Glühwein und glitzernden Firlefanz auf den hell erleuchteten und in Jingle-Bell-Geklirr gehüllte Straßen und Plätze zu meiden? Darf ich das, muss ich es womöglich gar oder helfe ich damit den Fanatikern, denen Weihnachten, Wohlergehen und vielleicht auch Wohlstand ein Dorn im zornigen Auge sind?

Allein, dass solch ein Attentat inmitten Berlins, auf dem Platz, auf dem ich am vorigen Sonnabend noch war, möglich ist, lässt mich in solchen Nächten schlaflos zurück. Aber es ist auch die Angst, dass nun völlig übertrieben – ob irrational oder bewusst – reagiert wird. Ohne auch nur die Ermittlungen abzuwarten stand für den künftigen US-Präsidenten Donald Trump sofort fest, dass es sich um einen islamistischen Anschlag handeln müsse.

Islamisten würden Christen abschlachten und „die zivilisierte Welt muss umdenken“, fordert Trump. Es drängt sich nun fast zwangsweise die Sorge auf, dass der bald mächtigste Mann der Welt seine Wahlkampfaussage kippt, die US-Armee künftig deutlich weniger in Auslandseinsätze zu schicken. Im Gegenteil: Nun droht wieder eine Überreaktion, am Ende dann noch mehr Terror, Gewalt, Angst und Spaltung unserer Zivilisation.

Was nach 9/11 mit dem Einmarsch in Afghanistan, verbrämt als Kampf gegen den Terror, begann, darf sich nicht wiederholen. Natürlich müssen wir Terroristen entschlossen bekämpfen, islamistischen Fanatikern ihr Handwerk legen. Aber der Kampf gegen den Terror darf nicht so geführt werden, dass die Menschen im vermeintlichen Kriegsgebiet diesen für sich selbst als Terror verstehen. Das gebiert nur neue Dschihadisten, neue Gewalt, immer mehr Tote – eine Spirale aus Rache und Reaktion.

So schwer es nach einem solchen Anschlag ist, wir müssen einen kühlen Kopf bewahren. Denn natürlich liegt es jetzt nahe – wenn erste Berichte stimmen sollten, dass ein möglicherweise aus Afghanistan oder Pakistan Geflohener den Lkw zur Waffe gemacht hatte –, die Flüchtlingspolitik grundsätzlich infrage zu stellen. Aber können wir uns wirklich von dieser Welt abkoppeln? Schotten dicht, Zäune hoch? Es ist diese Hilflosigkeit, die an den Gedanken nagt. Diese Sorge, die nun aufzieht, dass doch wieder erst geschossen und dann erst nachgedacht wird. Traurige Tage vor dem Heiligen Abend.

Vielleicht lässt uns wenigstens innehalten, dass dieser mutmaßliche Anschlag vor der Ruine der Gedächtniskirche stattfand, dem Berliner Mahnmal gegen Krieg und Zerstörung.

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