Kommerzialisierung des Reisens Wie das Reisen vom Luxusgut zur Massenware wurde

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„Die Demokratisierung des Luxus ist ein Widerspruch in sich“

Wann kam es dann zu einer wirklichen Demokratisierung des Reisens, wie wir sie heute kennen?
Das war ein langer Prozess, der nicht schlagartig ablief. Begonnen hat er, als das Bürgertum während der Kaiserzeit anfing zu reisen. Ein weiterer wichtiger Schritt kam mit KdF in der Nazizeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Massen in Deutschland völlig verarmt und damit beschäftigt, wieder den Wohlstand der Vorkriegszeit zu erreichen. Ans Reisen war da für die meisten nicht zu denken. Der Massentourismus entwickelte sich erst im Laufe des „Wirtschaftswunders“. Ab den 1960er-Jahren revolutionierte zudem das Flugzeug das Transportwesen auf ähnliche Weise wie die Eisenbahn zuvor. Damals wurden erstmals Düsenflugzeuge eingesetzt, die waren billiger, flogen schneller und höher als Propellermaschinen. Das brachte weniger Turbulenzen in der Luft und die Menschen griffen nicht mehr so oft zum Speibeutel. Mit den Großraumflugzeugen Anfang der 1970er-Jahre, voran dem „Jumbo-Jet“, fielen die Flugpreise dann ins Bodenlos. Erstmals verreiste mehr als die Hälfte der Deutschen, in den Achtzigern wurde die alljährliche Urlaubsreise für breite Schichten normal.

Wie sehr hat das Flugzeug unser heutiges Reisen geprägt?
Soziologisch betrachtet hat das Flugzeug am Reiseverhalten wenig verändert. Die Reiseintensität stieg zur gleichen Zeit wie in Westdeutschland auch in der DDR an – und dort reisten die Menschen per Bahn oder Auto und nicht per Flugzeug. Das Flugzeug hat auch kaum neuen Reisepraktiken geschaffen. Es hat lediglich dazu geführt, dass entferntere Ziele leichter zu erreichen waren.

Aber das ist doch eine immense Veränderung.
Das Flugzeug hat das Reisen endgültig globalisiert. Wir hatten schon um 1900 Strandurlaub, „Rucksacktouristen“ in den Bergen und auch exklusivere Dinge, etwa eine Bärenjagd in Sibirien oder eine Fahrt mit dem Luxusdampfer bis nach Grönland waren schon vor dem Ersten Weltkrieg möglich. Die Reisebranche ist absolut nicht innovativ, auch wenn sie sich das selbst gerne erzählt. Die ach so neuen Baukastenreisen kennen wir ja seit Thomas Cook.

von Rüdiger Kiani-Kreß, Volker ter Haseborg

Heute, wo das Reisen kein Luxus mehr ist, geht es vor allem um die Inszenierung der Reisen: Die Menschen erklimmen höhere Berge, besuchen entlegenere Städte und betreiben ausgefallenere Sportarten. Ist das die Folge der Demokratisierung des Reisens?
Die Demokratisierung des Luxus ist ein Widerspruch in sich. Die Demokratisierung führt zwangsläufig dazu, dass die einfache Reise entwertet wird und sich die Distinktionsspiele verschärfen. Man setzt sich über den Reisestil von anderen ab. Das Bürgertum ist da sehr erfinderisch. Aber auch das gab es schon lange vor dem Flugzeug. Wir sind Reisende und ihr seid Touristen – das war seit dem 19. Jahrhundert die gängige Reaktion des etablierten Bürgertums auf nachdrängende Schichten. Die Reisen des Bürgertums, etwa in die „Sommerfrische“, mussten dabei nicht einmal teuer sein – sie sollten „guten Geschmack“ demonstrieren.

Am Münchener Flughafen konnten wir jüngst eine der Auswirkungen betrachten: Ein kleiner Fehler im System führte zu gigantischem Chaos – die Abfertigungsmaschinen laufen an den Knotenpunkten auf Hochtouren, nahe der Überforderung. Glauben Sie, dass es noch lange so weitergehen kann, insbesondere im Hinblick auf die Umweltschäden durch Flugreisen?
Mit dem Massentourismus hat das Fliegen fantastische Dimensionen angenommen, das  exklusive Flair ist dahin. Das grüne Bildungsmilieu beklagt denn auch gerne die Zunahme der Flugreisen, nicht ganz zu Unrecht. Allerdings ist diese Haltung verlogen, denn diese Schicht ist es, die am meisten fliegt und den größten ökologischen Fußabdruck hinterlässt. Die fliegen nach Sri Lanka in den Urlaub und leben dann dort in einem Nullenergiehaus. Solche Menschen werden sich ihren Spaß an Fernreisen nicht kaputt machen lassen – und gleichzeitig auf die vermeintlich primitiven Touristen herabblicken, die nur nach „Malle“ zur „Schinkenstraße“ reisen. Dabei ist das allemal ökologischer als ein Trip nach Sri Lanka, egal wo man da haust. Ich glaube nicht, dass unsere jetzige Art des Reisens ewig so weitergeht, aber das dürfte eher von unvorhersehbaren Entwicklungen abhängen. Stiege beispielsweise langfristig der Kerosinpreis, würde das Fliegen wieder deutlich teurer und exklusiver. Vielleicht wird die Bahn dann wieder das Reisemittel der Wahl – und auch das derzeit so gescholtene Auto.

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