Kommission für Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung Was die Geschichte der deutschen Kohle lehrt

Braunkohle-Ausstieg: Was die Geschichte der deutschen Kohle lehrt Quelle: imago images

Die Braunkohlereviere werden bald keine mehr sein. Der Staat, der den Strukturwandel wollte, sollte nicht zu viel versprechen. Denn die Geschichte des Ruhrgebiets lehrt, was staatliche Strukturpolitik kann – und vor allem, was nicht.

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Was Deutschland sich mit dem Ausstieg aus der Braunkohle vorgenommen hat, ist weltgeschichtlich einmalig. Es gebe, so sagt der Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe von der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, „kein historisches Beispiel, dass ein Staat eine funktionierende Ökonomie aus nichtökonomischen Gründen beendet.“

Die Kohle-Kommission der Bundesregierung schlägt in ihrem Abschlussbericht vor, spätestens ab 2038 komplett auf den Abbau und die Nutzung des einzigen profitablen heimischen Energierohstoffs zu verzichten. Deutschland wird dann auf eine einzigartige Geschichte der Kohlewirtschaft zurückblicken, in der der Staat eine widersprüchliche Hauptrolle spielte: Den unrentablen Steinkohlebergbau hielt er jahrzehntelang am Leben, obwohl er längst unrentabel war, der Braunkohletagebau dagegen wird nun früher eingestellt, obwohl er weiterhin rentabel ist. Mit der Schließung der letzten Zechen 2018 und dem Kohlekommissionsbericht 2019 geht nun der marktbedingte, staatlich verzögerte Strukturwandel in den Steinkohleregionen nahtlos über in den klimapolitisch motivierten, forcierten Strukturwandel in den Braunkohleregionen. Nach den lebensverlängernden Maßnahmen für die todgeweihte Steinkohle folgt nun für die ökonomisch quicklebendige Braunkohle das klimapolitisch gewollte Todesurteil.  

Dass der Staat, der dieses Urteil fällte, die Hinterbliebenen in den Braunkohleregionen nicht einfach mit den schmerzlichen Folgen seines Handelns allein lassen kann, wird kaum jemand kritisieren. Allein: es fragt sich, wie aussichtsreich eine aktive Strukturwandelpolitik langfristig sein kann. Die historische Erfahrung legt keinen allzu großen Optimismus nahe.

Im Fall des Steinkohle-Bergbaus hat der Staat ein halbes Jahrhundert lang eine nicht mehr wettbewerbsfähige Wirtschaftsstruktur aus sozialen, regionalpolitischen und strategischen Gründen mit sehr großem finanziellem Aufwand zu stabilisieren versucht. Schon seit den späten Fünfzigerjahren war offensichtlich, sagt Plumpe, dass deutsche Steinkohle künftig weder gegen Erdöl noch gegen außereuropäische Kohlen konkurrenzfähig ist. Den langfristig also unvermeidbaren Strukturwandel an Rhein, Ruhr und Saar hat der deutsche Staat mit enormem Aufwand nicht nur sozial abgefedert, sondern auch auf sechs Jahrzehnte gestreckt. In einer aktuellen Studie des Instituts für Arbeit und Technik (IAT) über „Erfahrungen aus dem Strukturwandel im Ruhrgebiet“ ist von rund 200 Milliarden Euro die Rede. Ganz genau kann und will das vermutlich niemand mehr wissen.

Für die Generationen von Strukturwandel abmildernden und verzögernden Politikern waren die finanziellen Kosten vermutlich weniger entscheidend als die politischen, so vermutet der Wirtschaftshistoriker Alexander Nützenadel von der Humboldt-Universität Berlin: „Politische Kosten sind besonders niedrig, wenn man eine Lösung findet, mit der sich die Mehrheit abfindet. Die ökonomischen Kosten der Transfers und die Frage, ob man dadurch den Wandel nicht vielleicht sogar noch schwieriger macht, werden bei der politischen Lösungsfindung meist weniger berücksichtigt. Politische Zyklen sind kurz, Politiker brauchen schnelle Lösungen, aber wirtschaftliche Transformationen dauern lang.“

Gewiss ist, dass die palliative deutsche Strukturwandelpolitik durchaus nicht alternativlos war, wie Plumpe klarstellt: „In Großbritannien hat die Regierung Thatcher in den Achtzigerjahren die Reste des geologisch günstiger als in Deutschland gelegenen Steinkohlebergbaus drastisch abgeräumt. Auch in Frankreich, den Niederlanden und Spanien waren die Strukturwandelprozesse nicht so stark abgefedert. Aber wenn man sich das Ruhrgebiet heute ansieht, kann man nicht sagen, dass man hier zu einem besseren Ergebnis gekommen wäre.“

Die Situation von Gelsenkirchen, Gladbeck oder Wanne-Eickel dürfte wahrlich nicht angetan sein, den Bewohnern der Braunkohlereviere in Garzweiler, Jänschwalde oder Schkopau besondere Lust auf den bevorstehenden Strukturwandel zu machen. Die im Abschlussbericht der Kohlekommission – ihr offizieller Name lautet euphemistisch Kommission für Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung – vorgeschlagenen Maßnahmen zur Ansiedlung von Unternehmen sieht Wirtschaftshistoriker Plumpe daher grundsätzlich mit Skepsis: „Der Versuch eine industrielle Struktur durch eine andere, neue dauerhaft ersetzen zu können, ist ein Köhlerglaube.“ Plumpe erinnert an ernüchternde Erfahrungen: „Die Versuche der verschiedenen Regierungen seit den Sechzigerjahren, das Ruhrgebiet zu revitalisieren, waren vergeblich. Die Wiederherstellung einer industriellen Basis, die an frühere Dimensionen erinnert, ist nicht gelungen. Das Opel-Werk in Bochum, Nokia, Fernsehgeräteproduktion, das ist alles wieder untergegangen. Dasselbe gilt für die ehemaligen Kohlereviere im französischen Lothringen, in der Wallonie in Belgien, Nordengland, Nordspanien.“

Selbst die wohlwollende IAT-Studie, die im Auftrag der Umweltschutzvereinigung WWF entstand und den klimaschutzmotivierten Kohleausstieg nicht in Frage stellt, macht diesbezüglich keine Hoffnung. Vor allem die „Orientierung an Großunternehmen und damit auch eine unzureichende Entwicklung und Förderung von kleineren Unternehmen zeigt sich in Teilen noch heute“. Die „Effizienz der Mittel“, die der Staat jahrzehntelang ins Ruhrgebiet pumpte, „wird sehr kritisch betrachtet.“ Mit Blick auf die Braunkohlereviere schreiben die IAT-Autoren, dass „die Politik (...) gegebenenfalls akzeptieren muss, dass nicht in allen Regionen eine mit der Braunkohlewirtschaft vergleichbare Re-Industrialisierung sowie ein selbsttragender ökonomischer Aufschwung oder zumindest eine Stabilisierung gelingen werden. Zumindest in Teilräumen besteht die Gefahr, dass die ökonomischen und demografischen Schrumpfungsprozesse voranschreiten (...)“.

Erfolgreich war, da sind sich die IAT-Autoren, Plumpe und die meisten anderen Beobachter der jüngeren Geschichte des Ruhrgebiets einig, der Aufbau der Wissenschaftslandschaft. Das ist durchaus erstaunlich, da das Ruhrgebiet bis in die Sechzigerjahre keine einzige Universität beherbergte. Die Hoffnung, mit den Studenten und Forschern auch Scharen neuer Unternehmensgründer anzulocken, erfüllte sich nur ansatzweise. Zwar gibt es mittlerweile natürlich auch Unternehmensgründungen von ehemaligen Studenten. Unterm Strich jedoch ist das Ruhrgebiet eine „Akademiker-Export-Region“, wie Plumpe es nennt.

Die Vorstellung, mit genügend staatlicher Förderung ein neues Silicon Valley zwischen alten Fördertürmen oder verlassenen Braunkohlekraftwerken aus dem Boden stampfen zu können, hält Plumpe für ebenso illusionär wie die dauerhafte Ansiedlung von Großunternehmen. „Wenn die Bedingungen für Start-ups in Grevenbroich oder in der Lausitz günstig wären, gäbe es die dort längst. Eine bestimmte historische Strukturentwicklung ist nicht zufällig, sondern an die Bedingungen ihrer Möglichkeit gebunden.“ Und auf diese Bedingungen hat die Politik eben nur sehr begrenzte Einflussmöglichkeiten.

Die Entstehung wirtschaftlicher Kraftzentren und Wachstumskerne zu erforschen, ist eine der interessantesten Felder der Wirtschaftsgeschichte. Warum entsteht in den einen Regionen mehr Wohlstand als in anderen? Dabei spielen unter anderem wohl einerseits harte, geografische Standortfaktoren – im 19. und frühen 20. Jahrhundert waren das für das Ruhrgebiet vor allem die Kohle in der Erde und der gut schiffbare Rhein – eine zentrale Rolle, aber damals wie heute auch kulturelle, historisch gewachsene Bedingungen. Im günstigsten Fall entstehen dann so genannte Cluster, in denen sich positive Faktoren gegenseitig verstärken: räumlich geballte Netzwerke von Produzenten, Zulieferern, Forschungseinrichtungen, Handwerkern und unternehmensfreundlichen Institutionen. In der gegenwärtigen Digitalwirtschaft ist das von Elite-Universitäten und kulturell attraktiven, lebenswerten Städten umgebene Silicon Valley in Kalifornien das erfolgreichste Beispiel.

Und der Staat und die Strukturpolitik? „Cluster sind historisch entstanden, die kann man nicht schaffen“, sagt Plumpe. Politik könne nur Potentiale, die ohnehin schon da sind, durch Schaffung von Rahmenbedingungen verstärken. Ein wichtiges Feld war in der Geschichte erfolgreicher Wirtschaftspolitik meist die Schaffung günstiger Infrastrukturen, unabhängiger Universitäten, generell eines starken Bildungswesens, die Sicherung technischer Standards, natürlich auch Rechtssicherheit und Schutz des Eigentums.

Die Strukturwandelverzögerungspolitik im Ruhrgebiet in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist wohl eher kein gutes Vorbild. Weit mehr lernen lässt sich dafür aus der Entstehungsgeschichte des Ruhrgebiets als industrielles Kraftzentrum im 19. Jahrhundert. Der Boom dieses frühen Clusters der Montanindustrie beruhte nämlich, wie Werner Plumpe erklärt, nicht zuletzt auf einer klugen Rückzugsentscheidung des preußischen Staates. Weil der Kohlebergbau an der Ruhr zunächst unter staatlicher Regie stattfand – mit festgelegten Verfahren, Arbeitszeiten, Löhnen und Preisen – blieben private Kapitalgeber fern. Als Preußen dann 1865 mit dem „Allgemeinen Berggesetz“ das staatliche Direktionsprinzip – nicht aber seine Aufsichtsfunktion -  aufgab, begann der große Aufstieg des Ruhrgebiets zum wichtigsten Industriezentrum Europas.

Vielleicht ist das eine bleibende und immer wieder missachtete Lehre aus der nun beendeten Geschichte des deutschen Kohlebergbaus: Der Staat kann zum entscheidenden Standortfaktor werden, wenn er weiß, wo er sich besser zurückhält.

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