Konstituierende Sitzung des Bundestags Die Rückkehr der Debatte

Der Einzug der AfD in den Bundestag beflügelt die Oppositionsparteien SPD und Linke. Die erste Sitzung des neugewählten Parlaments macht Hoffnung auf harte Debatten – aber mit Stil. Ein Kommentar.

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Die Abgeordneten erheben sich während der konstituierenden Sitzung des 19. Deutschen Bundestages im Plenarsaal im Reichstagsgebäude in Berlin zur Nationalhymne. Quelle: dpa

Berlin Etwas Gutes hat der Einzug der AfD in den Bundestag bewirkt: Die bisher im Parlament vertretenen Parteien begreifen den Wahlerfolg der Rechten als Weckruf. Fast alle Redner sagten am Dienstag: Im Bundestag wurde, jedenfalls in den letzten vier Jahren viel zu wenig debattiert. Denn CDU, CSU, SPD, Grüne und Linke wirkten in den vergangenen vier Jahren oft selbst dann furchtbar einig, wenn sie es nach den eigenen Überzeugungen der Abgeordneten gar nicht waren.

Wie befreit von großkoalitionärer Disziplin startet als erstes die SPD beherzt in die Opposition und beginnt den Frontalangriff auf die Union und Kanzlerin Angela Merkel (CDU). „Ihr Politikstil, Frau Merkel, ist ein Grund dafür, dass wir heute eine rechtspopulistische Partei im Bundestag haben“, legte Carsten Schneider, Parlamentarischer Geschäftsführer der neuen größten Oppositionspartei, los. Um dann, unüblich für das Hochamt einer Konstituierenden Sitzung des Parlaments nach der Wahl, die Änderung der Geschäftsordnung zu fordern: Viermal pro Jahr solle die Kanzlerin künftig zur Bundestagsfragerunde antreten.

Wir haben verstanden, war das erste Credo der Etablierten in dieser ersten Bundestagssitzung nach der Wahl vom 24. September. Die hatte das Parlament so stark verändert wie keine Wahl der fünf Jahrzehnte davor: Erstmals seit den 1960er-Jahren sitzt eine rechtere Partei als die CSU im deutschen Bundestag, der mit sechs Fraktionen zersplittert ist wie seit den 1950ern nicht mehr.

Das zweite Credo lautet nun wieder: Politik wird im Bundestag gemacht. Die Regierung führt diese Politik dann nur aus. Das steht im Grundgesetz, war gefühlt jedoch arg in Vergessenheit geraten.
Als erster intonierte Eröffnungsredner Hermann Otto Solms (FDP) die neue Ära des selbstbewussten Abgeordneten.

Und zwischen den Bekenntnissen zur Debattenkultur findet dann so etwas wie eine Umarmungsstrategie gegenüber der AfD statt: Keine Hetze, aber auch keine Ausgrenzung solle es geben, mahnt erst Solms und nach seiner Wahl der neue Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU).

Spätestens nach den ersten zwei Stunden im neuen Bundestag wird allerdings auch klar: Es war ziemlicher Unsinn von den Parteien des alten Bundestags, aus Angst vor der AfD die Geschäftsordnung so zu ändern, dass nicht mehr der älteste Abgeordnete an Jahren, sondern an Bundestagsjahren die Eröffnungsrede hält, nur um einen AfD-Redner zu verhindern. Denn die AfD hatte so einen nachvollziehbaren Beschwerdegrund und fand Anlass, ihrerseits den ersten Nazi-Vergleich zu bringen: Immer sei es Tradition demokratischer Versammlungen in Deutschland seit der Paulskirche 1848 gewesen, den Ältesten zum Eröffnungsredner zu bestimmen, sagte Bernd Baumann, Parlamentarischer Geschäftsführer der AfD. Nur 1933 unter den Nazis im Reichstag nicht.

Auch wenn der Vergleich des letzten Bundestages mit Nazis hanebüchen überzogen ist: Etwas mehr Gelassenheit stünde der demokratischen Mitte durchaus an. Jedenfalls, solange es um die Geschäftsordnung geht. Vielleicht hätte dann ja auch die AfD ihrerseits nicht unbedingt auf Albrecht Glaser als Kandidaten für den Vizepräsidentenposten im Bundestag beharren müssen. Glaser hatte es nicht geschafft, seine Äußerung, der Islam sei keine Religion im Sinne des Grundgesetzes, zurückzunehmen. Dass Abgeordnete von der Union bis zu den Linken nicht jemanden zum Leiter von Bundestagssitzungen bestellen wollen, der die Religionsfreiheit im Grundgesetz infrage stellt, ehrt als Standhaftigkeit das Parlament.

Gezeigt hat der Bundestag in seiner ersten Sitzung, dass er den Einzug der Rechten verkraftet. Die wiederum haben gezeigt, dass sie im Bundestag nicht als Neonazis auftreten wollen. Für die nächsten vier Jahre bietet dieser Anfang die Hoffnung auf harte Debatten über sehr unterschiedliche Meinungen und Grundwerte, aber mit Stil. Mithin auf ein Parlament, in dem sich „nicht geprügelt wird“, wie Schäuble sagte. Ein Parlament, das aber auch nicht länger einschläfernd vor sich hin simmert, weil eine Große Koalition zwei Drittel der Redezeit okkupieren kann.

Eine Sternstunde der Demokratie war diese Eröffnungssitzung zwar noch nicht. Aber sie hat den Boden dafür bereitet, dass es künftig wieder solche Sternstunden im Deutschen Bundestag geben kann.

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